Heft 2 - Ulrike Beisiegel: ERFAHRUNGEN IN DER WAHRHEITSKOMMISSION Nach dem Bekanntwerden des bislang schwersten Falles von Betrug in der Wissenschaft in Deutschland hatte das Präsidium der größten deutschen Wissenschaftsorganisation (DFG), die aus internationalen Wissenschaftlern zusammengesetzte Kommission eingesetzt. Sie sollte den Ursachen von Unredlichkeiten im Wissenschaftssystem nachgehen, präventive Maßnahmen diskutieren und bestehende Mechanismen zur wissenschaftlichen Selbstkontrolle hinterfragen. Auf der Basis im Ausland bekanntgewordener Fälle von Betrug in der Wissenschaft und nach Kenntnis der Strategien anderer Länder sollte diskutiert werden, welcher Weg in tffiseröm Land zur Vermeidung solcher Fälschungsfälle gegangen werden könnte.
Vorbemerkung
Ich habe als Biochemikerin, mit dem Arbeitsbereich Klinische Forschung, in der DFG Kommission mitgearbeitet. Ich habe diese Aufgabe gerne und mit besonderem Engagement übernommen, da ich in meiner eigenen Karriere bereits auf Unredlichkeiten in der Forschung gestoßen bin. Es erschien mir bereits seit langem eine wichtige Aufgabe, solche Empfehlungen zu erarbeiten. Das Kernproblem der gesamten Diskussion über das Thema Forschungsfälschung lautet: sind Fälschungsfälle seltene Ausnahmen, oder sehen wir die Spitze eines Eisberges? Die Frage ist eng verknüpft mit der Definition: was ist Forschungsfälschung? Diese beiden Probleme waren auch zentrale Punkte der Diskussion in der Kommission. Ein Ergebnis dieser Diskussion ist die Wahl des Wortes 'Unredlichkeit' statt 'Fälschung'. Um meine Position und meinen Bericht verständlich zu machen, möchte ich die Problematik der Definition von Unredlichkeit anhand von Beispielen aus dem Bereich der Biowissenschaft erläutern.
Beispiel 1: Das Blut eines Patienten soll vor und nach der Gabe einer neuen Substanz untersucht werden. Im Druck des Stationsalltags hat ein junger Arzt vergessen, die Röhrchen mit 'vor' bzw. 'nach' Gabe der Substanz zu beschriften. Die Proben kommen ins Labor, und auf Nachfrage, welches Röhrchen denn nach der Verabreichung der Substanz gefüllt worden war, ist die schnelle Antwort: das sieht man doch an den Werten! Ist es 'redlich', diese Proben jetzt zu messen und dann zu sagen, da der Wert x nach der Gäbe höher sein soll, wird das Röhrchen mit dem höheren Wert das Blut nach Gabe der Substanz sein? Ich meine, das ist unredlich, denn die Untersuchung wird ja durchgeführt, um herauszufinden, ob die Substanz wirklich bei allen Patienten den Wert x erhöht. Ich habe viele Situationen im Alltag der klinischen Forschung erlebt, in denen solche Unregelmäßigkeiten toleriert und in der Forschung verwertet wurden. Beispiel 2: Die 2.Wiederholung einer Proteincharakterisierung zeigt in der Gelelektrophorese die erwartete Bande nicht mehr. Erst nach einer extrem langen Belichtung sieht man eine schwache Färbung, die man mit gutem Willen als Bande in gleicher Position werten kann. Da die ersten beiden Gele bereits für andere Zwecke verwandt wurden und daher nicht mehr für die Publikation genutzt werden können, wird die erwartete Bande mit dem Computer verstärkt. Es gab ja zwei Gele, die das 'richtige' Ergebnis zeigten. Ist ein solches Vorgehen 'redlich'? Ich meine, es ist unredlich, denn das Experiment ist offensichtlich nicht so reproduzierbar, wie man es sich 'erhoffte, und es müßten weitere Experimente gemacht werden, die die ersten beiden Ergebnisse bestätigen. In vielen Arbeitsgruppen ist heute jedoch der Druck auf die jungen Mitarbeiter so groß, daß sie diese Zeit zur sorgfältigen Reproduktion der Ergebnisse nicht bekommen. Die Daten werden deshalb ohne die notwendigen Kontrollen herausgegeben. Als drittes Beispiel vielleicht eines, das nicht nur die Naturwissenschaften betrifft: Eine neue Idee soll publiziert werden. Beim Schreiben des Manuskriptes fällt auf, daß genau die gleiche Idee bereits im letzten Jahr von einem Kollegen veröffentlicht wurde. In der Hoffnung, daß die Gutachter, die das Manuskript lesen, diese Arbeit noch nicht kennen, wird die Publikation aus dem letzten Jahr nicht zitiert. Wenn die Gutachter es nicht merken, geht die Idee noch einmal als 'neu' heraus. Ist das ein redliches Vorgehen? Ich meine nein, denn das Manuskript könnte, in Kenntnis der bereits publizierten Idee als Bestätigung oder Erweiterung des bereits Beschriebenen verstanden und trotzdem sinnvoll publiziert werden. Und wie oft fehlen relevante Zitate. Die Beispiele zeigen, wie nah Unregelmäßigkeiten und Unredlichkeiten beieinanderliegen und wie leicht die Grenzen verschwimmen können. Das Überschreiten der Grenze zur Unredlichkeit ist sicher in den meisten Fällen unbewußt und es ist ebenso sicher in vielen Fällen nicht nachweisbar und nicht aufklärbar. Nur durch eine offene Arbeitsatmosphäre und einen von den Arbeitsgruppenleitern initiierten Austausch der Daten innerhalb der Gruppe können solche 'Alltagsfälle' verhindert werden. Wie hat die Kommission gearbeitet?
Zur Vorbereitung wurde den Wissenschaftlerinnen und. Wissenschaftlern in der Kommission Material über das Umgehen mit Fälschungen in anderen Ländern zur Verfügung gestellt. Beim ersten Treffen stellte der Vorsitzende der Kommission und Präsident der DFG, Prof. Frühwald, den Mitgliedern den aktuellen Fälschungsfall im Zusammenhang dar, und wir haben unsere Meinungen dazu ausgetauscht. Bereits dabei wurden unterschiedliche Positionen zu der Frage 'Einzelfall' oder 'Spitze des Eisberges' klar. Es wurde sehr konstruktiv diskutiert, unsere unterschiedlichen Positionen hatten viel mit den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen in den verschiedenen Fachrichtungen und mit unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen zu tun. In der Physik, so kommentierte ein Kollege, reicht eine gute Publikation oder weniger pro Jahr, um eine Spitzenposition zu bekommen. In der Medizin dagegen hört man immer wieder, daß Klinikchefs von ihren Mitarbeitern bis zu zwölf Publikationen im Jahr verlangen - wie kann man wohl pro Monat ein gutes Manuskript erstellen? Es gibt die unterschiedlichsten persönlichen Erfahrungen. Haben manche wirklich besonders viele schlechte Erfahrungen .. gemacht, oder hängen die Unterschiede auch damit zusammen, daß manche Professoren engen Kontakt zu den jüngeren Mitarbeitern haben und als Vertrauensperson angesehen werden, der man Probleme erzählt, während andere durch ihre Position und viele wichtige Verpflichtungen weit von der Gruppe entfernt sind, so daß sie Unregelmäßigkeiten oder Unredlichkeiten gar nicht erkennen können und ihnen auch nicht davon berichtet wird? Grundsätzlich wurde in der Kommission Einigkeit erzielt, daß es Selbstkontrolle geben muß und diese durch eine Denkschrift initiiert werden soll und daß keine staatliche Kontrollinstanz geschaffen werden sollte. Auf dieser Basis wurde ein Arbeitspapier von Mitarbeitern der DFG erstellt, das dann von jedem Mitglied der Kommission durchgearbeitet und abschließend ausführlich diskutiert wurde. Die Mitglieder der Kommission haben in dieser Diskussion sehr um Formulierungen gerungen, und jede/r mußte Kompromisse eingehen, um ein gemeinsames Papier fertigstellen zu können. Die Arbeit mit allen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere auch mit den Vertretern der DFG in der Kommission war extrem spannend und kontrovers, aber am Ende sehr konstruktiv und angenehm. Gab es Tabus?
Viele kritische Kolleginnen und Kollegen sagen, eine solche Kommission ist doch gesteuert, da kann man doch nicht wirklich seine Meinung einbringen oder gar durchsetzen. Vielleicht ist das manchmal wahr, aber meine Erfahrung in dieser Kommission, und nur auf die kann ich hier zurückgreifen, war, wie oben angedeutet, sehr positiv. Es wurden alle Dinge besprochen, die ernsthaft eingebracht wurden. Die Themen konzentrierten sich natürlich auf die Fra-ge nach der Redlichkeit in der Wissenschaft. Ein Thema wurde in der Kommission nicht behandelt - nicht weil es ein Tabu war, sondern weil die Frage hier nicht gestellt war: die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers für die gesellschaftliche Relevanz seiner Forschungsergebnisse. Ich würde gerne in Zukunft eine DFG-Kommission sehen, die sich mit diesem Thema beschäftigt, aber es hat mit der Redlichkeit in der Forschung nichts zu tun. Wissenschaftliche Ergebnisse, aus denen gesellschaftspolitische Probleme entstehen können - etwa Schäden für die Umwelt oder die Herstellung von Massenvernichtungswaffen -, sind sicher sehr kritisch zu beurteilen und zum Teil auch moralisch zu verurteilen, aber sie sind nicht unredlich in ihrer wissenschaftlichen Korrektheit. Eine solch klare Trennung ist zunächst wichtig. Es bleibt aber die Forderung, daß ein bewußter Wissenschaftler nicht nur redlich arbeiten, sondern seine Arbeit auch in gesellschaftliche Zusammenhänge einordnen und Verantwortung für die Folgen seiner Arbeit übernehmen sollte. Warum häufen sich Fälle in den Biowissenschaften?
Da die meisten international bekanntgewordenen Fälle von wissenschaftlichem Fehlverhalten und Fälschungen iius dem Bereich der Biowissenschatten kamen, wurde immer wieder die Frage nach der speziellen Ursache in diesem Wissenschaftsbereich gestellt. Die Biowissenschaft hat gegenüber der Physik und der Chemie wenig 'Geschichte'. Aus technischen Entwicklungen im Bereich der Chemie und Biologie haben sich sehr schnell die Biochemie und Molekularbiologie entwickelt, also die 'Biowissenschaften', die vor allem in der Medizin zur Aufklärung von Krankheitsursachen eingesetzt werden können. Durch den extrem schnellen Fortschritt in der Technikentwicklung war die Validierung der Methoden und eine kritische Evaluierung ihrer Anwendungsbereiche nicht möglich. 'Jeder' setzte die technisch relativ einfachen neuen molekularbiologischen Methoden ein, ohne jedoch die Ergebnisse ausreichend kritisch bewerten zu können. Daneben ermöglichte die faszinierende Entwicklung der Computerprogramme die Auswertung von großen Datenmengen, ohne die Möglichkeit zur individuellen Prüfung der Daten. Die Relevanz der Daten, vor allem in der Interaktion mit anderen Parametern, konnte vom Anwender nicht mehr erfaßt werden. 'Publish or perish' - große Labors nutzten die Techniken zu schneller Datenproduktion, und um mithalten zu können, wurden kleinere Gruppen einfach überfordert, es wurden ohne die notwendige sorgfältige Überprüfung Daten publiziert. Ein zweiter Punkt, der die Biowissenschaften von anderen Wissenschaften unterscheidet, ist, daß hier immer mit biologischem Material gearbeitet wird. Das heißt, kein Experiment ist wirklich exakt unter den gleichen Bedingungen wiederholbar. Zellkulturen sind sensibel und •abhängig von vielen Umwelteinflüssen. Tiere, auch aus Inzuchtstämmen, sind nie identisch, und Patienten sind Individuen, die man nur sehr begrenzt vergleichen kann. Die Daten eines jeden Patienten sind entsprechend individuell, und die Zellkultur in einem Labor ist nicht notwendigerweise mit der in anderen Labors zu vergleichen. Als Konsequenz wird zur Validierung einer Aussage eine große Anzahl von Versuchen benötigt. Dies ist besonders schwierig, da das Material meistens begrenzt ist, nur langsam nachwächst oder der Patient inzwischen gesund oder gestorben ist. All dies macht eine Wiederholung unter exakt den gleichen Bedingungen schwer, und es ist verständlich, daß unter dem Druck zu publizieren auch Ergebnisse mit nur einer Wiederholung publiziert werden. Interessante und wichtige Einzeldaten, die nicht verallgemeinert werden können, oder nicht reproduzierbare Befunde ohne wissenschaftliche Relevanz erfordern eine Gratwanderung, die besonders die Biowissenschaften betrifft. Ein dritter wichtiger Punkt ist der Umstand, daß die Biowissenschaften überwiegend in der Medizin angesiedelt sind, in der es eine völlig andere Wissenschaftskultur gibt als in den Naturwissenschaften. Die Medizin ist ein qualitativ hochwertiger Dienstleistungsbetrieb, von dem der Patient sich Heilung erhofft, also eine hohe Erwartungshaltung besteht. Der Arzt an den Universitäten soll aber heilen, lehren und forschen. Dabei gibt es zwei wichtige Probleme: l. Der Arzt hat nicht ausreichend Zeit für diese Dreifachbelastung. 2. Der Arzt bekommt in seiner medizinischen Ausbildung nicht die Grundlage für wissenschaftliches Arbeiten vermittelt. Er muß sich dies nebenbei erarbeiten. Ohne diese beiden Probleme zu berücksichtigen, fordern Medizinische Fakultäten, daß alle Kolleginnen und Kollegen ihre Promotion möglichst mit grundlagenwissenschaftlichen Themen machen und daß Habilitationen nicht auf der Basis hervorragender klinischer Arbeiten vergeben, sondern auch mit molekularbiologischen oder biochemischen Arbeiten erstellt werden müssen. Das führt dazu, daß engagiertes, aber nicht ausreichend ausgebildetes technisches Personal oder Doktoranden Experimente durchführen, die weder sie selbst noch der entsprechende Arbeitsgruppenleiter kritisch evaluieren können. Unregelmäßigkeiten können gar nicht entdeckt werden, und durch Zeitdruck und Mangel an Material kann es leicht zu Unredlichkeiten kommen. Die Schuldfrage ist dann sehr schwierig. Ich meine, die Hauptschuld liegt in dem System und damit bei uns allen, die wir es nicht schaffen, das System zu verändern. Diese drei Punkte halte ich nach 15 jähriger Tätigkeit als Naturwissenschaftlerin in der Klinik für die wichtigsten Ursachen, daß es gerade in den Biowissenschaften so viele Fälle von schlechter wissenschaftlicher Praxis gibt. Schaffen wir durch Selbstkontrolle die Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis?
Auf der Pressekonferenz, die die DFG zu der Denkschrift abhielt, wurde ich immer wieder gefragt, ob denn wirklich durch Selbstkootrelle etwas erreicht werden könnte. Mit meinen Gedanken zu dieser Frage möchte ich abschließen: Bedenkt man, daß es sich bei Wissenschaftlern und Professoren um die Elite u-nserer Gesellschaft handelt, muß man einfach davon ausgehen, daß eine Selbstkontrolle der Wissenschaft möglich ist. Die wichtigsten Selbstverwaltungsorgane, wie die DFG, geben durch das Gutachter-System und die Gremien die strukturelle Möglichkeit der gegenseitigen Kontrolle. Wir Wissenschaftler müssen die 'ehrenamtlichen' Tätigkeiten in dieser Selbstverwaltung der Wissenschaft aber auch 'ehrenhaft' ausführen. Forschung ist die Suche nach Wahrheit, und wenn die Professoren und Wissenschaftler nicht ausreichend intellektuelle Rechtschaffenheit aufweisen, um langfristig gute wissenschaftliche Praxis in unserem Land zu erhalten, dann können auch keine staatlichen Kontrollinstanzen die Wissenschaft retten. Die eingangs gestellte Frage 'Einzelfall' oder 'Eisberg' möchte ich aufgrund meiner Erfahrung ganz klar mit 'Spitze des Eisbergs' beantworten. Allerdings glaube ich, daß der Eisberg schmelzen kann, wenn alle Wissenschaftler die in dieser Denkschrift zusammengefaßten grundlegenden Empfehlungen befolgen. | |