Heft 2: EDITORIAL von Dieter Simon


Das erste Heft der GEGENWORTE hat ein unerwartet starkes und erfreulicherweise nahezu uneingeschränkt positives Echo gefunden. Kritische Stimmen galten, wie nicht anders zu erwarten, einzelnen Beiträgen und einigen Details der Aufmachung (Farben zu blaß, Schrift zu klein, Flattersatz etc.), aber nicht der Konzeption und den leitenden Maximen. Wir werden also weiterhin versuchen, Realitäten abzubilden und, wo möglich, über sie hinauszugehen, die Segmentierung der Perspektiven zu überwinden, um ein zumindest virtuelles Gespräch zwischen den Disziplinen, den Generationen (anerkannte Wissenschaftler und Nachwuchs), den 'Ständen' (Wissenschaft, Literatur und Politik) und, nicht zuletzt, den Geschlechtern zustande zu bringen.

Schließlich wollen wir aktuelle Probleme aufgreifen, was Tücken birgt, wie man an dieser Ausgabe sehen kann. Denn vor zwei Jahren, als die Schwerpunkte der ersten Hefte ersonnen wurden, war nicht vorauszusehen, welche Publikationslawine wenige Monate später das Thema 'Fälschung' ausgelöst haben würde, ganz zu schweigen von der aufgeregten öffentlichen Diskussion, die sich vor allem im Kontext von ethischer Verantwortung und fachlicher Kontrolle bewegte. Die Frage lag auf der Hand, ob es unter diesen Umständen überhaupt noch sinnvoll sein könne, über 'Lug und Trug' zu handeln, ob es wirklich noch einen Gesichtspunkt gebe, der nicht schon bis zum Überdruß beschrieben, bewertet und diskutiert worden sei. Und tatsächlich meinten einige der um Rat gebotenen Kollegen, alles, was gesagt werden müsse, sei gesagt, und alles, was man sich als Rest noch ausdenke, sei der Situation, so wie sie sich darstelle, nicht zuträglich. Aber dann zeigte sich doch, daß sich vom schon üblich Gewordenen abweichen ließ durch Mischung heterogener Gedanken, durch Grenzüberschreitungen, durch die Aufnahme scheinbar unwichtiger, aber letztlich doch ins Zentrum hineinwirkender Einflüsse, durch die Beschreibung von Kontexten, durch die Sammlung historischer und aktueller, kulturund naturwissenschaftlicher Blickpunkte, die zusammengenommen nicht bloß Anstöße zur Reflexion geben, sondern auch aufSchwachstellen der bisherigen Diskussion hinweisen. Der Rückgriff auf unser Generalthema, nämlich die Bedingungen derWissensproduktion durch den akademischen Sektor der Gesellschaft, hat uns zwar deutlichen Distanzgewinn zum Gegenstand 'Fälschung' im engeren Sinne eingebracht. Andererseits haben wir uns dafür eine solche Fülle von Standpunkten eingehandelt, daß der Vorwurf thematischer Beliebigkeit nicht leicht von der Hand zu weisen sein dürfte. Warum haben wir z.B. das allbekannte 'Novemberfieber' nicht behandelt, obwohl es doch offenkundig auch ein Stückchen (behördlich veranlaßten) Trugs darstellt. Und warum haben wir umgekehrt ein lebensrettendes gefälschtes Gutachten aufgenommen, das doch in unserem Kontext sichtlich eine Ausnahmesituation illustriert?

Am Ende schien uns die beklemmende 'Beliebigkeit' nicht mehr so verfehlt. Denn ihre 'Leistung' könnte gerade darin bestehen, zum Wechsel enggefaßter Anschauungen einzuladen und diesen Wechsel einzuleiten.