Heft 2 - Dieter Simon: GELASSENER BLICK AUS DER FERNE IN SIEBEN AUFZÜGEN


Wir hatten uns daran gewöhnt, den Sachverhalt für eine amerikanische Besonderheit zu halten. Die Amerikaner haben viele Probleme, die wir nicht haben. Es gibt Wirbelstürme, political correctness, fundamentalistische Sekten - und es gibt wissenschaftliche Fälschungen. Von heute auf morgen mußten wir einsehen: unsere Lage ist nicht besser. Kaum waren die Wogen des ersten großen Skandals ein wenig flacher geworden, schon hatten DFG und MPG ihre Ethik- und Verhaltensregeln publiziert und wir im stillen zu hoffen begonnen, es könnte sich vielleicht um eine einzige schändliche Ausnahme gehandelt haben, da tischten uns die Medien das nächste Fällchen auf. Dem folgte alsbald wieder ein Fall, und so droht es weiterzugehen, als seien wir in Amerika. Die Betroffenheit (siehe die Kommentare der Betroffenen) ist groß, der Schaden (=Vertrauensverlust), so hört man, nicht minder, der Berichte - von der Serie bis zum Buch - sind Legion. Alles deutet auf eine elementare Krise.

Ist es wirklich so schlimm? Gehen die Würde, die Qualität und das Ansehen der deutschen Wissenschaft, die in diesem Jahrhundert ohnehin schwere Schicksalsschläge hinnehmen mußten, jetzt endgültig zugrunde? Oder könnte es sein, daß wir für einen Abgrund von Wissenschaftsverrat halten, was sich am Ende bloß als eine kleine Mulde erweist? Für letzteres gibt es einige Anhaltspunkte. Gerafft ordnen sie sich zu einem Bild, das geeignet sein könnte, verzagte Wissenschaftler wieder aufzurichten.

Erstens ist die Wissenschaft nicht insgesamt, sondern nur in Teilen affiziert. Vor allem die Naturwissenschaften sind betroffen, unter ihnen aber keineswegs alle in gleicher Weise. Die Physik hat weit weniger Skandale aufzuweisen als die Biologie, die Geologie braucht ihr Haupt nicht vor der Medizin zu senken, Astronomie darf sich gegenüber der Chemie ihrer Unschuld rühmen. Die Geistesoder Kulturwissenschaften müssen zwar seit alters mit gefälschten Dokumenten leben, sie werden kontinuierlich mit den Manipulationen ihrer Erinnerung konfrontiert und müssen - seit man dem Pathos des Schöpferischen huldigt - damit umgehen, daß dieser oder jener gedacht oder gemacht haben will, was von einem anderen stammt. Aber derlei 'Fälle' erregen meist nur die unmittelbar Betroffenen, während die Beobachter sich eher amüsieren. Sozialwissenschaftler glauben - wenn überhaupt - an die von ihnen selbst erstellten Statistiken nicht so inbrünstig, als daß sie durch fremden Hokuspokus gekränkt werden könnten. Und Ingenieure haben als Praktiker eher mit 'Anglerlatein'-Sachverhalten zu kämpfen als mit realen Falsifikaten. Kurzum: vielleicht ist Krise, aber sie ist nicht überall.

Zweitens hat man lange geahnt, und die Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte konnte es haarscharf unter Beweis stellen, daß in der Wissenschaft schon immer, selbst von den Größten, gemogelt und geschwindelt wurde. Galilei hat die von ihm beschriebenen Experimente nicht gemacht, vielleicht andere oder überhaupt keine. Der fromme Mendel hat mit seinen Erbsen und Bohnen getrickst, und selbst bei Newton und Einstein ist der Verdacht nicht ganz ausgeräumt, daß es fallweise ordentlich schlampig zugegangen ist, fallweise aber auch die Fakten sich ein wenig der Theorie beugen mußten. Das sind zwar alles Marginalien, weil einerseits am Ende regelmäßig etwas Wichtiges und Wahres zutage trat und andererseits Irrtum und Schwindel auf diesen Feldern menschlicher Geistestätigkeit ohnehin zum Verwechseln eng nebeneinander siedeln. Aber immerhin gibt es in der gesamten Geschichte der Wissenschaft so viele gut bezeugte Beispiele für ausgemachte Spitzbübereien, daß schwerlich von einem neuen, im Wortsinne 'unerhörten' Phänomen gesprochen werden darf.

Drittens ist nicht jeder ein Schalk, der so aussieht oder so genannt wird. Querdenker, Schulen-Fremde oder Schulen-Flüchtige, Unzünftige, Außenseiter, der vom Entdeckerglück Begünstigte, aber auch der schlicht Unliebsame - sie alle werden von den Durchschnittlingen gern diffamiert; Und in der auf Wahrheit codierten und zur Wahrhaftigkeit selbstverpflichteten Wissenschaft läßt sich mit dem Vorwurf, die Ergebnisse beruhten auf Täuschung und Betrug, manche Karriere verlangsamen, wenn nicht stoppen. Ferner ist die Grauzone breit: der kursorische Blick, die flüchtige Prüfung, die falsche Anmerkung, die fahrlässige Formulierung, der eingebildete Eintritt des allzusehr herbeigesehnten Resultats oder die feste Überzeugung, das früher gesehene Fremde sei schon immer das Eigene gewesen, sind Elemente des imperfekten Wissenschaftleralltags und werden zum (vorgeworfenen) Betrug erst durch Konkurrenteninteressen oder (karriere)politische Kampagnen. Schließlich läßt auch eine allzugut funktionierende Selbstkontrolle unter altvertrauten und auf ihren Selbstverständlichkeiten ruhenden wissenschaftlichen Kommunarden leicht das Unwahrscheinliche als das Unwahre erscheinen.

Viertens kann es durchaus richtig sein, daß die absolute Zahl der Gauner zugenommen hat. Aber auch die absolute Zahl der Wissenschaftler hat beträchtlich zugenommen. Nicht ganz so dramatisch wie die Zahl der Studenten, aber im Verhältnis zu früher eben doch gewaltig. Heute wird in der Industrie geforscht und im Auftrag der verschiedensten Staatsministerien, an der Universität und in Hunderten außeruniversitärer Einrichtungen mannigfaltigster Art. Die Wissenschaft hat sich in eine Produktivkraft verwandelt, die weder allein noch vorrangig an der Universität angesiedelt ist, sondern überall dort zum Zuge kommt, wo sie den Produktionsprozeß befördert. Wissenschaft wird in der Regel nicht mehr gesucht als "noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" (Humboldt), sondern präsentiert sich als Arbeitsplatz mit bescheidenem Karrieremuster. Wo wissenschaftliche Tätigkeit als eine zur Reproduktion notwendige tägliche Leistung angesehen wird, deren Merkmale von den Arbeitenden als 'Job' erfaßt und beschrieben werden, stellt sich berufsspezifisches Verhalten ein, mit Arbeitszeitregelung, Urlaub, Gewerkschaften, Krankfeiern und - eben auch Falschmünzen. Angesichts dessen ist die Zahl der Scharlatane bemerkenswert gering.

Fünftens ist es nicht richtig, daß die Moral im Wissenschaftsbereich besonders stark abgesunken ist, wobei wir einmal unterstellen, daß die frühere 'Höhe' nicht ihrerseits ein historisches Konstrukt ist. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß eine Umfrage unter jungen (amerikanischen) Wissenschaftsadepten ergeben hat, daß 20 % von ihnen unter bestimmten Umständen (z.B. geringe Entdeckungsgefahr, hohe Gewinnaussichten) nicht zögern würden, falsche Tatsachen vorzuspiegeln, ist dies kein Beleg für einen überproportionalen ethischen Niedergang des Wissenschaftssektors. Es ist lediglich ein Beleg für das Einrücken der Wissenschaft in den Alltag. Denn auch im Alltag würden ceteris paribus vermutlich 20 % unserer Zeitgenossen vor einem Schwindel nicht zurückschrecken. Das ist vielleicht erschreckend, aber ein Teil unserer Normalität. Zu ihr gehört auch die Wissenschaft. Ihr ist die transsäkulare Weihe weithin abhanden gekommen, der Wissenschaftler als asketischer Hohepriester der Wahrheit ist kaum noch anzutreffen. Das hängt entfernt mit dem vielzitierten 'Markt' zusammen, zuerst ist es aber eine Modernisierungsfolge. Die konstruktivistische De-Objektivierung der Wissenschaft, die alle 'Erkenntnisse' zu sozialen Konstrukten erklärt hat, konnte nicht folgenlos bleiben. Die Postmoderne bedarf der Selbstbetäubung durch Wissenschaft als Religionsersatz nicht mehr so sehr wie die früheren (Nietzsche-) Zeiten. Ethikkataloge funktionieren in diesem Zusammenhang wie die bekannten Hinweise in der Kirche ("Denken Sie daran: Sie befinden sich in einem Gotteshaus"). Sie dokumentieren und beweisen das Dilemma, aber sie beheben es nicht.

Sechstens ist es, und zwar nicht nur wegen des gewissen Endlastungs- und Entschuldigungseffektes, nicht gänzlich unangebracht, einen kritischen Blick auf das System, auf Institutionen und Organisationen zu werfen. Zwar bleibt Schurke Schurke, aber nur Pharisäer dürfen so tun, als wäre die betrogene Umwelt ohne jegliches Arg und ohne jeden Fehl. Dabei wissen alle, in welchem Umfang unablässig Vertrauen in Anspruch genommen werden muß, ohne daß zureichende Kontrolle gewährleistet werden kann. Denn Kontrolle verlangt Expertise, und die nimmt mit jeder Spezialisierungsstufe, also täglich, ab. Außerdem ist Vertrauen nicht bloß bequemer (und insofern verwerflich), sondern auch humaner als Kontrolle. Generosität trägt altruistische Züge. Sie verträgt sich freilich schlecht mit der Warenförmigkeit des Produkts, auf die das wissenschaftliche Streben inzwischen weithin fixiert ist. Wenn Umsatz und Verbrauch über den Wert der Erzeugnisse entscheiden, dann ist es nicht erstaunlich, daß ökonomische Kriterien die Hirne der Erzeuger dominieren. Es ist schließlich folgerichtig, daß Beutelschneider dort gehäuft auftreten, wo es um den Beutel geht. Hölderlin-Gedichte fälscht man nicht als solche, sondern wenn man hofft, sie als Autograph einem Versteigerer andrehen zu können. Also versuchen die wissenschaftlichen, scharfem Konkurrenzdruck ausgesetzten Hersteller, sich selbst oder jedenfalls ihr Produkt zu Höchstpreisen zu verkaufen - wobei sie sich Händlerverhalten (wozu auch gehört: wer die Situation nicht ausnutzt, bleibt arm) aneignen. Das beginnt bei der perversen 'Ehrenautorschaft', die den Marktwert des Zitierten heben soll, führt über die Verschönerung und Anpassung der Empirie an das theoretische Wunschbild der Forscher und endet schließlich in Simulation, Fälschung, Diebstahl und Betrug. Verführung hat keinen Anspruch auf Strafmilderung, aber ihr Anblick mildert den Hochmut der Unverführbaren. Außerdem gilt immer noch die schon den alten Sentenzenverfassern geläufige Weisheit, die Welt wolle betrogen sein, ohne daß die Entrüstung der willfährigen Opfer nachgelassen hätte.

Siebtens und letztens ist es von Vorteil, heftigen Affekten mit A-pathie zu begegnen, zur Klärung der Lage und ohne gleich in ein betuliches Plädoyer für Phlegma einzutreten. Gegenwartsanalytiker, Gesellschaftsbeobachter, Zeitpulsfühler und ähnliche Profis reden schon länger, und nicht bloß wegen der sich rasch rundenden Daten, über den Übergang unseres Gemeinwesens in eine neue, bislang nicht erlebte Form, die zwar als solche erfrischend unbekannt ist, von der aber feststehen soll, daß in ihr das menschliche Wissen im allgemeinen und das wissenschaftliche Wissen im besonderen einen alles beherrschenden Rang gewinnen werden. Daß eine solche Transformation nicht ohne Friktionen abläuft, versteht sich von selbst. Steuerungsprobleme häufen sich, plötzliche Wertewechsel lösen Aufregung aus, andere Ubergangsphänomene verschiedenster Bedeutung treten lautstark in Erscheinung, bis sich der Lärm legt und allmählich die neue Normalität sichtbar wird. Versuchsweise sollten wir die Fälschungs-Skandale neugierig und gelassen unter diesem Gesichtspunkt, d.h.: nicht als systemfremden Skandal, sondern als evolutionären Risikofaktor, verorten. Sie verlieren dann viel von ihrem Schrecken.