Heft 3: EDITORIAL von Dieter Simon "Die Akademie muß ins Leben hinein", schrieb Adolf von Harnack im Jahre 1912. Das für Heft 3 der GEGENWORTE titelanimierendc Sätzchen wollte aus einer damals noch neuen Einsicht die Konsequenz ziehen. Die Wissenschaft - so muß man Harnacks Ausdruck 'Akademie' übersetzen - war keine exklusive Angelegen- heit der Gelehrten mehr. Ihre Anwendungsorientierung hätte ständig zugenommen. Sie war, wie man viel später formulierte, zur Produktivkraft geworden, von der die Gesellschaft zunehmend abhängig wurde. Also war es ein Gebot der Stunde, die Wissenschaft auch für diese Gesellschaft oder besser: für jene Mitglieder derselben zu öffnen, für die sie hinreichend belangvoll war. Harnack: "Sie muß daher auch ein festes Verhältnis zu den Bürgern gewinnen, die sich aus diesem oder jenem Grunde zur Wissenschaft gezogen fühlen bzw. die sie für ihre Unternehmungen benutzen und in ihren Fabrik-Laboratorien und sonst bedeutend fördern".
87 Jahre später hat sich die Lage von 1912 zwar in vielerlei Hinsicht entschieden verändert, aber 'die Wissenschaft' ist immer noch nicht im Leben der Bürger angekommen: • Die Durchsäuerung des Alltags mit Wissenschaft und die heranrückende demokratische Wissensgesellschaft haben die Zahl der von Wissenschaft direkt Betroffenen auf Herrn und Frau Jedermann ausgedehnt. Damit ist auch der Anspruch von Jedermann und der Anspruch an Jedermann, sich mit Urteilen der Wissenschaft und Urteilen über Wissenschaft möglichst kompetent zu befassen, immens gewachsen. 'Wissenschaft und Öffentlichkeit heißt die aktuelle Formel, mit der heutzutage über diesen Sachverhalt gesprochen und (häufiger) besorgt gestritten wird. • Die von der Wissenschaft faszinierten Bürger haben seit damals eher ab- als zugenommen. Dafür ist eine große Zahl wissenschaftskritischer, wissenschaftsskeptischer, selbst wissenschaftsfeindlicher, vor allem aber: wissenschaftsignoranter Bürger herangewachsen, deren Haltung und Befindlichkeiten wir gegenwärtig unter den Stichworten 'Wissenschaftsakzeptanz', 'Wissenschaftslegitimation', 'Wissenschaftsverständnis' diskutieren. • Die deutschen Wissenschaftsorganisationen und neuerdings sogar die Universitäten haben sich zwar mittels entsprechender Gremien nicht ohne Erfolg bemüht, "die großen Industriellen, die über wissenschaftliche Stäbe in ihren Werken kommandieren, in ihre Mitte aufzunehmen und sich ebenso zum Mittelpunkt (zu) machen für die zahlreichen wissenschaftlichen Vereine auf dem Gebiet des Geistes" (Harnack). Aber Zweckbündnisse dieser Art haben nur unter den Interessierten, nicht unter den Betroffenen das Klima verbessert. • Die Deutschen Akademien haben dagegen den Ratschlag des großen Theologen und hellsichtigen Wissenschaftspolitikers gar nicht erst aufgenommen. Für sie ist Wissenschaft immer noch "lediglich Sache der Gelehrten und in gewisserweise ein Arcanum". Dem entspricht denn auch die öffentliche Bewertung ihres Beitrags zur Lösung der Aufgaben der Gegenwart. Wenn zur Zeit in Deutschland verstärkt über Wissenschaft und Öffentlichkeit debattiert wird, dann begegnen sich in solchen Initiativen (wie sie etwa vom Stifterverband oder der ZEIT ausgehen) zwei Strömungen:
Einmal die heimische Erfahrung, wonach die Schwierigkeiten der Forschung, angemessen alimentiert zu werden, und die Mühelosigkeit, mit der die Kassenverwalter den Universitäten und der Wissenschaft den Hahn zudrehen können, offenbar mit der geringen Aufmerksamkeit, um nicht zu sagen: dem Desinteresse zusammenhängen, die in der Öffentlichkeit den Wissenschaftsbelangen entgegengebracht werden. Während die Schließung jedes Provinztheaters einen gellenden Aufschrei auslöst, wird der Verlust von Forschungsplätzen meistens nur in der Wissenschaft selbst thematisiert. Zum anderen die Rezeption der schon viele Jahrzehnte währenden, vorwiegend angelsächsischen pragmatischen Bemühungen, durch eine Mischung aus Erziehung, Aufklärung und (neuerdings auch) Spaß mit den Verständnis-, Legitimations- und Akzeptanzschwierigkeiten vor allem der modernen Naturwissenschaften fertig zu werden. Nicht Arroganz und gekränkte Eitelkeit stehen auf der Tagesordnung, sondern Public Understanding of Science (PUS) oder Scientific Literacy (von P. Hurd und R. McCurdy [1958!!]) - wie die hier einschlägigen Formeln lauten. Public Understanding ofScience hat sich bisher an den hinlänglich bekannten und selbst hierzulande bereits ohne große Effekte breitgetretenen Themen abgearbeitet: Kommunikationstheorie und Neue Medien, Aufgabe der Schulen, Versagen von Presse, Funk und Fernsehen, Aufgaben der Journalisten (Popularisierung, Verkauf, Kritik, Interpretation etc.), Aufgaben der Wissenschaftler (Elitenhabitus, Fachsprache, Rhetorikscheu, Didaktik etc.), Neuerfmdung der Aufklärung usw. Die Diskussion ist breitgefächert und bisher weitgehend konsequenzlos geblieben. Wenn die GEGENWORTE den Versuch machen, sich in diese Diskussion einzuschalten, dann kann es schwerlich um die Entwicklung neuer Rezepte gehen. Vermutlich wäre die gesamte Debatte ohnehin nicht schlecht beraten, wenn sie vor der Suche nach neuen Einfällen zunächst einmal die über viele Jahrzehnte gemachten amerikanischen Erfahrungen und Frustrationen [(!) 1995 breit und genau erörtert von Morris H. Shamos: The Myth of Scientific Literacy} sichten und reflektieren würde.
GEGENWORTE kann, wie bisher, nur beobachten, d. h. Sichtweisen aus verschiedenen 'Welten' sammeln und nebeneinanderstellen, in der Hoffnung, daß sie sich befruchten und neue Fragen inspirieren mögen. Bemühen wir uns sonst eher darum, die Bedingungen der Wissensproduktion in den Vordergrund zu stellen, so geht es diesmal auch um die Beleuchtung der Bedingungen der Vermittlung von Wissen durch Blick in die Köpfe der Wissenschaftler. GEGENWORTE können versuchen, neue Blickwinkel einzunehmen, die Wissenschaftler selbst, aber auch Schriftsteller und Angehörige anderer Systeme zu befragen und dadurch an der Sprache der Kommunikation, die doch Voraussetzung aller auf Verständigung zielenden Dialoge ist, zu arbeiten.
Was GEGENWORTE nicht können, kann ihr Träger, die Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, vielleicht besser. Jedenfalls kann sie ein Forum herstellen und eine Aktionsgruppe einrichten, die sich des Public Understanding of Science annimmt. Daß dabei die Humanities, deren Legitimationsbedarf nicht geringer ist als der der Naturwissenschaft (Science) ebenfalls mitgenommen werden müssen, versteht sich von selbst. Also nicht mehr PUS, sondern PUSH (Public Understanding of Science and Humaninities): die als mißbrauchend oder unbrauchbar verdächtigten Wissenschaften verständigen sich selbst und andere über sich. Das Unternehmen wird von der BBAW und der Gesellschaft Deutscher Naturforscher Leopoldina (Halle) gemeinsam vorbereitet. | |