Heft 6 - Karl Ulrich Mayer: EHER OSMOTISCH ALS SYSTEMATISCH 1 Die forschungsund hochschulpolitische Nicht-Debatte kommt mit einer sehr kleinen Anzahl von Begriffen aus. Dies zeugt von ihrem hoch scholastischen Charakter. Zu diesen Begriffen zählen u. a. Innovation, Exzellenz, Leistung, Wettbewerb, Internationalisierung und Profilbildung. Der wohl häufigste, aber vor allem unumstrittenste dieser Leitbegriffe ist der der Interdisziplinarität. Je mehr sich die Fächer an den Hochschulen, aber auch an außeruniversitären Forschungsinstituten in einer Weise eingraben, die an die Stellungskriege des l. Weltkrieges erinnert, desto lauter wird nach Interdisziplinarität gerufen. Kein Graduiertenkolleg und immer weniger Sonderforschungsbereiche werden gefördert, die nicht ihre Interdisziplinarität unter Beweis stellen. Innovation, das wirklich aufregende Neue in der Wissenschaft, zumal in der Forschung (gibt es auch Wissenschaft ohne Forschung?), geschehe, so heißt es, an den Grenzen zwischen den Disziplinen. Als Beweis dafür muss nun seit einigen Jahrzehnten immer wieder die Biochemie herhalten (Kohler 1992).
Es ist aber höchst zweifelhaft, ob diese Formel in ihrer Allgemeinheit überhaupt stimmig ist. So genannte interdisziplinäre Forschung kann außerordentlich konventionell sein, und viele so genannte Fachdisziplinen sind in sich kognitiv weitaus heterogener als in Beziehung zu Teilen ihrer Nachbarfächer. Das gilt sicher für die Soziologie, die politische Wissenschaft, die Ethnologie, aber auch für die Geschichtswissenschaft, die Psychologie und das, was früher Sprach- und Literaturwissenschaften hieß. 2 Dass zwischen den Fächern sich spannende und überraschende Neuerungen ergeben können, ist sicher richtig. Mir ist dies kürzlich bei einem Abendessen anlässlich der Eröffnung des 'Harnack-Hauses' in Dahlem plastisch vorgeführt worden. Helmuth Möhwald vom 'MPI für Grenzflächenphysik und Kolloidforschung' in Potsdam hat dabei von seinen Arbeiten zur Einkapselung von Molekülen im Nanometerbereich berichtet und seinen Anwendungen in der Pharmazie (zur Substitution von Nadelinfusionen z. B. von Insulin), bei der Parfümierung von Toilettenpapier und Damenstrümpfen und der gesteuerten ph-Wert-Veränderung bei Waschmitteln. Als ich ihn dann fragte, ob er Biochemiker sei, sagte er, er sei Physiker und diese Anwendungen seien nur Abfälle seiner physikalischen Forschungen zu Grenzflächen. Auf meine Nachfrage, wie denn dann seine Arbeitsplätze aussehen würden, Pipettenarbeitsplätze wie bei den Biochemikern oder Reaktions- und Messapparaturarbeitsplätze wie bei den Physikern, antwortete er, sie sähen wie die Glashaubenkabinen der Chemiker aus. Also Interdisziplinarität in einem Kopf? Andererseits sagt mir aber meine Tochter, eine promovierte Chemikerin für organische Chemie und praktizierende Biochemikerin, dass die Biochemie, die von Chemikern betrieben werde, ganz anders sei als die Biochemie, die von Biologen betrieben wird. Also doch eher Intradisziplin-Interdisziplinarität als Interdisziplin-Interdisziplinarität? 3 Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Ich betreibe meine eigenen Forschungsarbeiten seit 1972 fast ununterbrochen im Kontext interdisziplinärer Forschungskooperationen. Vielleicht rührt gerade daher mein Respekt vor der disziplinären Forschung und meine Skepsis gegenüber allzu naiv vorgetragenen Forderungen nach Interdisziplinarität. Wenn interdisziplinäre Forschung mehr sein soll als nur additive und parallele multidisziplinäre Forschung, ist sie außerordentlich aufwändig, mühsam und gelingt nur selten. Erfahrungsberichte aus eigener interdisziplinärer Forschung sind daher möglicherweise nützlicher als allgemeine Traktate. Ich möchte daher im Folgenden über zwei meiner eigenen interdisziplinären Forschungstätigkeiten berichten und versuchen zu bilanzieren, welche spezifischen Erträge daraus resultierten.
4 1972 fanden sich auf Initiative von Hans-Jürgen Krupp und Woifgang Zapf an der Universität Frankfurt Ökonomen und Soziologen zu einem ehrgeizigen Forschungsvorhaben zusammen. In Analogie zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sollten ökonomische und gesellschaftliche Zielgrößen definiert, gemessen, empirisch erklärbar und für politische Entscheidungsprozesse nutzbar gemacht werden. Als erster institutioneller Schritt wurde von 1972 bis 1979 eine DFG-Forschergruppe eingerichtet 'Sozialpolitisches Entscheidungs- und Indikatorensystem', das dann unter dem Akronym SPES bekannt wurde). Danach schloss sich unter Erweiterung u. a. auf Politikwissenschaftler unmittelbar der Sonderforschungsbereich 3 'Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik' an, der bis in die 90er Jahre an den Standorten Frankfurt/Main, Mannheim und Berlin arbeitete. Die Ökonomen befassten sich vor allem mit Problemen der empirischen Analyse der individuellen Einkommensverteilung, mit der Methodik von Mikrosimulationssystemen und Reformvorschlägen für die Alterssicherung. Die Soziologen entwickelten begriffliche und empirisch gehaltvolle Systeme sozialer Indikatoren und lernten von den Ökonomen, wie man Massendaten der amtlichen Statistik auflndividual- und Haushaltsebene analysiert, u. a. für die Untersuchung von Prozessen intergenerationaler sozialer Mobilität.
Auf der persönlichen und organisatorischen Ebene klappte die Kooperation ohne große Probleme. Fachlich blieben die Projekte aber weitgehend getrennt. Und dies, obwohl es sich bei den Beteiligten in der Regel weder um fachtypische Ökonomen (das heißt an mathematisch formalisierter Theorie orientierte 'Modellschreiner') noch um fachtypische Soziologen (das heißt um sozialphilosophisch ambitionierte Theoretiker) handelte, sondern um empirische Wirtschafts- und Sozialforscher. Soweit Integrationen gelangen, bewegten sie sich eher im methodischen als im kategorialen und theoretischen Bereich. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. Wo die Ökonomen von 'Verteilung' und 'Unterversorgung' sprachen, sprachen die Soziologen von 'Ungleichheit' und 'Armut'. Wenn die Soziologen über die institutionelle Prägung von Lebensverläufen im Wohlfahrtsstaat nachdachten, fielen für die Ökonomen dieselben Tatbestände relativ umstandlos in den Rahmen der Humankapitaltheorie. Gemessen an den ursprünglichen expliziten interdisziplinären Zielen müsste man diese intensive, fast 20 Jahre dauernde Kooperation im Ergebnis als gescheitert beurteilen. Weder wurde der Zielkranz der Makroökonomie um gesellschaftliche Normen ergänzt, noch wurde der Politik ein für sozial- und verteilungspolitische Zwecke funktionsfähiges integriertes Entscheidungs- und Indikatorensystem zur Verfügung gestellt (was zu einem großen Teil aber auch an dem Desinteresse der Politik lag), noch wurden auf der Ebene von Modellspezifikationen soziologische und ökonomische Erklärungen routinemäßig miteinander verknüpft. Dennoch hat sich diese interdisziplinäre Kooperation in vieler Hinsicht als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Der Prozess der Aneignung der jeweils anderen Methoden und Sichtweisen verlief eher osmotisch als systematisch, hat aber sowohl die Problemwahl als auch die Arbeitsweise der beteiligten Wissenschaftler dauerhaft beeinflusst. Dies gilt vielleicht weniger für die ursprünglichen 'Principal investigators' als für die jüngeren Wissenschaftler, die von vornherein in diesem interdisziplinären Kontext sozialisiert wurden. An drei Beispielen will ich dies veranschaulichen. Zum einen ist aus den Arbeiten des Sonderforschungsbereichs innerhalb der Ökonomik eine dauerhafte Tradition der empirischen Armutsforschung entstanden (Hauser 1997). Zum Zweiten hat diese langjährige Zusammenarbeit von Ökonomen, Soziologen und Politikwissenschaftlern die Entwicklung des 'Sozio-ökonomischen Panels' ermöglicht, einer seit 1984 jährlich durchgeführten Längsschnittuntersuchung von mehreren Tausend Haushalten, die zu den wichtigsten Datengrundlagen sowohl der Sozial- und Wirtschaftsforschung als auch der Politikberatung zählt und weltweit Modellcharakter hatte (Projektgruppe SOEP 1995). Zum Dritten haben die Bemühungen um integrierte Indikatorensysteme für die gesellschaftliche Dauerbeobachtung sowohl zu einem Berichtssystem geführt, in dem Soziologen, Ökonomen und die amtliche Statistik eng zusammenwirken (z. B. den Datenreport 1999), als auch zur Tradition der empirischen Wohlfahrtsforschung, die sich insbesondere bei der Untersuchung der Vereinigung der beiden deutschen Teilgesellschaften bewährt hat (Zapf/Habich 1996). Nicht zuletzt haben die in diesen Kooperationen entstandenen persönlichen und wissenschaftlichen Netzwerke vielfältige wissenschaftspolitische Wirksamkeit gezeigt, die sich u. a. in den laufenden Arbeiten der Kommission zu einer Verbesserung der Infrastruktur zwischen amtlicher Statistik und Wissenschaft niederschlagen und einen verbesserten Zugang der Wissenschaft zu den Mikrodaten der amtlichen Statistik zum Ziel haben. 5 Für die Debatte um Interdisziplinarität würde ich aus den beschriebenen, wie aus anderen eigenen Erfahrungen (Baltes /Mayer 1996) folgende, vorläufige Schlüsse ableiten:
a) Weil interdisziplinäre Lernprozesse eher osmotischen Charakter haben, brauchen sie einen langen Atem. b) Interdisziplinarität braucht komplexe Forschungsorganisation, findet aber letztlich im einzelnen Kopf statt. Deshalb sind die damit gegebenen Chancen für jüngere Wissenschaftler das eigentliche Vehikel für die Überwindung von Disziplingrenzen. c) Die unbeabsichtigten Nebenfolgen sind häufig wichtiger als die ursprünglichen interdisziplinären Zielsetzungen. Man sollte daher die Planbarkeit interdisziplinärer Forschung nicht überschätzen. | |