Heft 9: WISSENSCHAFT 'UND' KUNST Einführung "Die Kunst ist eine Sache, die Wissenschaft eine andere." Norbert Wieners lapidare Abgrenzung hatte die Distinktionen im Blick, mit denen die Moderne die beiden Gebiete voneinander geschieden hat. Und in der Regel pflegte auch der Künstler dieser Einschätzung zuzustimmen, wie Maxim Gorki mit der Aussage, die Wissenschaft sei der Verstand der Welt, die Kunst aber deren Seele. Eigentlich war man sich einig: Die einen waren die Märchenerzähler, die andern die Fliegenbeinzähler.
Gegenwärtig beobachten wir jedoch auf verschiedene Weise eine Wiederannäherung; Grenzverlagerungen und -durchlässigkeiten gehen dabei sowohl von Teilen der Wissenschaften wie der Künste aus. Die 'Postmoderne' hat mit ihrer Kritik an der Moderne wieder zu integrieren versucht, was jene aus der Wissenschaft verbannt hatte: Subjektivität, Pluralität, Heterogenität, Differenz. Als ein Ergebnis dieser Diskussion ist heute der semantisch öffnende Begriff der 'Aisthesis' wieder aufgenommen worden. Biotechnologien entwerfen Bilder vom Menschen: Kunst oder Wissenschaft? Die Forderung nach einem 'neuen Diskurs' wird erhoben, der die Frage des 'Körper-Bildes' unter den veränderten Bedingungen thematisiert. Mit Computer und Internet benutzen Wissenschaft und Kunst das gleiche Medium; die digitalen, virtuellen Welten werden für beide zum 'Material'. Aus dieser Sicht verliert die Abgrenzungsfrage an Bedeutsamkeit, weil die praktische Arbeit ohnehin wissenschaftliche, technische und künstlerische Aspekte miteinander kombiniert. Die Expansion der audiovisuellen Medien führt zu einem 'Mahlstrom der Bilder' und zu einem 'Iconic Turn' in der Theorie, zu einem Visualisierungsschub ebenso in Kunst wie in Wissenschaft. In der Lebenswelt sind Wissenschaft und Kunst präsent wie nie. Die Ästhetisierung des Alltags setzt sich durch, aber auch das Interesse für die Wissenschaft wächst, vor allem für die 'Life Sciences' und hier besonders die Gentechnik. 'Grenzüberschreitende Offensiven' von Seiten der Kunst erfolgen gegenwärtig in erster Linie durch die 'High-Tech-Kunst'. Diese greift nicht nur aktuelle Wissenschaftsthemen auf, um diese in ihrem eigenen Bereich des 'schönen Scheins' zu bearbeiten, sondern sie interveniert praktisch. So gewinnt die Vision des vom Künstler geschaffenen Organismus konkrete Gestalt in der 'Transgenen Kunst' - in Alba etwa, jenem berühmten Kaninchen, dem vom Künstler das 'Green Fluorescent Protein' einer Meerqualle eingepflanzt wurde, so dass es unter ultraviolettem Licht intensiv grün zu leuchten beginnt. Es geht also um die Schnittstellen wissenschaftlicher und ästhetischer Produktion unter aktuellem und historischem Blickwinkel - Wissenschaft als Kunst, Kunst als Wissenschaft -, aber auch um die Grenzen: Wissenschaft versus Kunst. In der Allegorie der antiken Muse noch vereint, haben sich Wissenschaften und Künste im Laufe der Zeit immer stärker aus- und binnendifferenziert. Heute sind jedoch nicht nur die Distanzen zwischen den verschiedenen Gebieten augenfällig, sondern es zeigen sich ebenso aufs Vielfältigste neue Berührungszonen. Sie unterlaufen jene programmatische Abgrenzung, die historisch gesehen gerade eine der notwendigen Voraussetzun-gen dafür bildete, dass die einzelne Wissenschaftsdisziplin ihre Institutionalisierung legitimiert und durchgesetzt hat. Im Blickfeld der aktuellen Diskussion stehen vor allem Probleme und Fragen, die über eine Bestandsaufnahme hinaus auch zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Wissenschaften und Künsten führen könnten. |