Heft 9: EDITORIAL von Dieter Simon


"Die Pflichten des Künstlers und des Wissenschaftlers können beide nur soziale sein. Sie haben der Einordnung des Menschen in die Gesellschaft zu dienen, der 'Konstruktion' einer neuen Ordnung - auf Kosten des Ich". So leichthin hat Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts der junge Peter Rühmkorf bestimmt, was er von den Adepten der Wissenschaft und der Kunst erwartete. Ob er, wie es damals noch üblich war, in der Schule gelernt hatte, dass die einen die Aufgabe durch Selbstverpflichtung auf die Wahrheit, die anderen durch den Dienst an der Schönheit zu erfüllen hätten, wird nicht mitgeteilt. Vermutlich hat die Einheit des Zweckes den Autor wesentlich mehr interessiert als die Mittel, deren sich Künstler und Wissenschaftler bedienen.

Bei den 'Großen' hat diese Form, auf die besonderen menschlichen Fähigkeiten - das Können und das Wissen - zu sehen, seit jeher im Vordergrund gestanden. Auch bei denen, die Rühmkorfs postfaschistisches Postulat eher als sozialistische Zumutung denn als zustimmungsfähige Maßgabe empfunden haben mögen.

Die 'Kleinen' haben sich dagegen eher mit Grenzziehungen unter den Mitteln befasst. Wobei vielerlei übersehen wurde. Etwa: dass Kunst und Wissenschaft sich nicht als Erwachsene und Autonome voneinander getrennt haben, sondern dass die Wissenschaft im 18. Jahrhundert aus der Kunst herausgeschlüpft ist, weil sie glaubte, ihr neues Geschäft verlange auch einen neuen Altar. Ferner: dass es zuerst und eigentlich lediglich die so genannten Naturwissenschaften waren, die meinten, ohne die fantasiebergende Kunst auskommen zu können, während 'weichere' Wissenschaften, wie zum Beispiel Geschichte, Medizin, Psychologie und Recht, ihre Herkunft nur in den kurzen Zeiten des krassen Irrtums völlig verleugneten und in ihrer Praxis recht eigentlich niemals aufgegeben haben. Schließlich: dass jene, die über Unterscheidungen sprechen, bei diesem Anlass absichtslos der Gemeinsamkeit zu Diensten sind.

Vollends seit die alte Wahrheit bettlägerig und die Schönheit zum ästhetischen Werturteil relativiert wurde, zwinkern Naturwissenschaftler und Künstler sich wieder häufiger zu.

Es gibt jetzt des Öfteren Veranstaltungen, die sich "Kunst als Wissenschaft" oder/und "Wissenschaft als Kunst" titulieren, wobei auch bei solchen Gelegenheiten mit 'Wissenschaft' vorwiegend die Naturwissenschaften gemeint sind. Man hört jetzt vermehrt die Rede von einer fortschreitenden Wiederannäherung der unstreitig seit der Aufklärung Getrennten. High-Tech-Künstler werden zitiert, die virtuellen Welten der Computerfreaks oder die kühnen und bestürzenden Menschen- und Tierbilder der Biotechnologen.

Sieht man genauer zu, hat man allerdings eher den Eindruck, dass die Künste dabei sind, sich mittels der von den (Natur-)Wissenschaften entwickelten und abgesonderten Techniken Provinzen zurückzuerobern, die ihnen zu Unrecht entrissen wurden. Die Wissenschaft hat bislang zu der als Diskurs stilisierten Wiedervereinigungsbewegung, die sich am Ende sogar auf die Zusammenführung von Kunstakademie und Wissenschaftsakademie auf hohem Niveau erstreckt, außer Visualisierungsstrategien und kunsthandwerklich angereicherten Werbekampagnen offenbar wenig beigetragen.

Ob wissenschaftliches Wissen und künstlerisches Wissen nicht wesentlich mehr voneinander profitieren könnten, als bisher sichtbar wurde, müsste ein systematischer Klärungsprozess an den Tag bringen, der von den gegenworten allerdings nicht geliefert, sondern nur gefordert werden kann.