9. Heft - Carsten Hucho, Daniel H. Rapoport: WISSENSCHAFT IST KEINE KUNST "Naturwissenschaften gehören nicht zur Bildung", schreibt Dietrich Schwanitz in seinem Bestseller Bildung. Alles was man wissen muss. Sein Beweis ist autosuggestiv: Im gebildeten Gespräch am Buffet sei es zwar blamabel, klassische Musik für "durchweg zu laut" zu befinden, heitere Zustimmung jedoch erheische, wer offenbart, dass er das Ohm'sche Gesetz nicht kennt und im Übrigen von Naturwissenschaften nichts versteht. Diese Einstellung sei in "gebildeten Kreisen" derart weit verbreitet und akzeptiert, dass daraus getrost geschlussfolgert werden könne: Naturwissenschaften gehören nicht zur Bildung und mithin nicht zur Kultur.
Wie populär eine solche Meinung auch wirklich sein mag, der Wissenschaftshistoriker und -journalist Ernst Peter Fischer sah darin eine so dramatische Missrepräsentation der Naturwissenschaften, dass er umgehend mit der Veröffentlichung eines Gegenopus Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte konterte. Darin versucht er die Wissenschaften durch anspruchsvolle Popularisierung in das Blickfeld des allgemeinen Kulturverständnisses zu rücken. Ein anderer Versuch, die Wissenschaften als kulturfähig zu rehabilitieren, findet sich etwa in dem Projekt "Kunst als Wissenschaft/Wissenschaft als Kunst". Hier scheint man zu hoffen, den Wissenschaften durch die Betonung ihres künstlerischen, kreativen Aspektes doch noch ein Hintertürchen in das Gebäude der Kultur zu öffnen. Solcherlei wohlmeinendes Engagement verkennt die eigentliche Problematik. In der implizierten Auffassung, nur das Unterhaltsame der Wissenschaften sei kulturtauglich, erblicken wir einen verderblichen Irrtum, dessen Ursachen wir aufdecken wollen. Denn eigentlich scheint es uns unmittelbar einsichtig, dass die Naturwissenschaften zum Kanon menschlicher Kultur gehören. Wie aber kann es dann zu derlei Streitigkeiten kommen? Wir sind der Meinung, dass sie in der Verwechslung von Kultur und populärem Kulturverständnis ihren Ursprung haben. Diese Unterscheidung, deren Berechtigung wir später begründen möchten, bedeutet aber auch: 'Kultur' und 'Bildung' umfassen ungleich mehr, als es das allgemeine Kulturverständnis vermuten lässt. Das populäre Kulturverständnis umgreift allenfalls einen Schatten der Kultur. Das populäre Kulturverständnis
Immerhin scheinen herausragende Naturwissenschaftler, insbesondere 'Genies', eine Sonderrolle im Kulturverständnis zu spielen. Über sie wird geredet. Geniale Wissenschaftler unterscheiden sich von bemühten auf ähnliche Art, wie sich Musiker von 'Musikanten' unterscheiden: durch ein hohes Maß an Intuition und Kreativität. Dies macht sie anerkannt feuilletontauglich. Es ist daher verständlich, dass in ihren Biografien künstlerische Elemente außerhalb der naturwissenschaftlichen Tätigkeit gesucht - und gefunden - werden. Kein Einstein-Buch, das ohne einen Verweis auf sein Geigenspiel auskommt, selbst in Feynmans legendären Lectures on Physics findet sich ein Frontispiz des Conga spielenden Physikers in jedem der drei Bände. Während Einstein aus gutbürgerlichem Hause stammte, in dem Hausmusik und Kunst wesentliche Bestandteile der Tradition und des Kulturverständnisses darstellten, war Feynman für sein kulturelles Desinteresse bekannt, das an eine explizite Ablehnung konventioneller Bildung grenzte. Von seinem Biografen als "Genie" (James Gleick: Genius) tituliert, darf ein Hinweis auf Musikalität dennoch nicht fehlen: Offenbar erhalten Naturwissenschaftler als 'Genie' Flair und Aufmerksamkeit, wie sie sonst nur Opernstars oder Hollywoodsternchen vorbehalten sind. Der kulturelle Wert der Wissenschaften scheint abhängig davon, wie viel Anekdotisches sich darüber zusammentragen lässt. Dieser Wert steigt, wenn möglichst viele (seien es ernsthafte Laien, plauderndes Premierenpublikum oder sektglashaltende Kultursimulanten) Fakten und 'Faktoide' über Wissenschaftlerbiografien zum Besten geben können. Die Neigung, solcherlei rhetorisches Schüttgut mit Reden über Wissenschaft zu verwechseln, ist ähnlich groß, wie Belesenheit für Bildung zu halten. Und so scheint im populären Kulturverständnis festzustehen: Ein naturwissenschaftliches Genie ist Künstler. Aber Wissenschaft ist keine Kunst. Es wäre sicher eine fatale Anpassung an die intellektuelle Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft eines breiten Publikums, wenn lediglich im Unterhaltsamen der Wissenschaften Kulturtaugliches zu suchen wäre. Nicht die Wissenschaften stehen außerhalb der Kultur - das feuilletonistische Kulturverständnis ist schlicht zu eng, sie zu umfassen. Insofern halten wir es für falsch anzunehmen, dass die Wissenschaften nur durch ihre - durchaus verdienstvolle - Popularisierung, das heißt ihre unvollständige Übersetzung in eine Laiensprache, zum Bestandteil der Kultur werden können. Wir sind vielmehr der Auffassung, dass - bei aller Komplexität ihrer Sprache und dem zugegeben mühevollen Zugang - sowohl die wissenschaftliche Methode selbst als auch ihre Ergebnisse Kultur sind. Nur die billigen Plätze im Kulturkanon werden durch leichte 'Verständlichkeit' erkauft. Diese Plätze werden vom populären Kulturverständnis abonniert. Zwei Rezeptionsebenen
Im Gegensatz zur Wissenschaft werden die Künste gemeinhin als zentrales, geradezu konstituierendes Element von Kultur wahrgenommen. Während die Künste allen Glanz der Kultur auf sich zu ziehen vermögen, bescheinigt man den Wissenschaften nur ein freudloses, im Grunde eher schales Naturell. Den Schlüssel für diese Fehleinschätzung vermuten wir in der eben beschriebenen Verwechslung von Kultur und Kulturverständnis. Diese Verwechslung findet ihren Ursprung in den unterschiedlichen Rezeptionsebenen von Künsten und Wissenschaften. Während es für die Künste zwei qualitativ unterschiedliche Rezeptionsebenen gibt - den emotionalen Zugang und die rationale Auseinandersetzung im Rahmen einer ihr angemessenen Sprache -, bleibt für die Wissenschaft im Wesentlichen nur die zweite. Die 'vegetative' Ebene
Es ist das Los der Wissenschaften, dass sie für den theoretisch nicht Eingearbeiteten weitestgehend unzugänglich sind. Hingegen kann beispielsweise klassische Musik ohne ein Verständnis ihrer inneren komplexen Struktur und ohne einen Begriff ihrer Formalisierung geschätzt und genossen werden. Die Sprache der Musik ist eine kulturelle Konvention, die von den Menschen, die in dieser Kultur leben, von Geburt an, quasi mit der Muttermilch, aufgesogen wurde. Daher möchten wir diese Zugangsebene etwas provokativ 'vegetativ' nennen. Diese Ebene existiert für die Künste, für die Wissenschaften existiert sie nicht. In der Musik sieht sich auch der musiktheoretisch unbelastete Zuhörer durch das Dargebrachte unterhalten, weil er die etablierten musikalischen Grundelemente (Rhythmik, Harmonik und Melodie) verinnerlicht hat. Darüber hinaus gibt es jedoch selbstverständlich eine zweite Rezeptionsebene, die sich nur dem Eingeweihten, der das Regelwerk beherrscht, erschließt. Wir behaupten, dass diese 'rationale' Rezeptionsebene einen ähnlich reichen Zugang zu den Künsten bietet wie zu den Wissenschaften. Die unterschiedliche Bedeutung, die der Künstler der komplexen inneren Struktur beimisst, also dem Zugang über die zweite Rezeptionsebene, ermöglicht hier eine ebenso vorläufige wie einfache Unterscheidung zwischen U- und E-Musik. U-Musik verzichtet demnach bewusst auf innere, strukturelle Komplexität mit der ihr eigenen Ästhetik und konzentriert sich auf die instinktive, emotionale Rezeption. Wir vermuten, dass die Auseinandersetzung mit der so genannten E-Musik - trotz ihres höheren 'theoretischen' Potenzials - nur bei einem geringen Teil der Zuhörer über die 'vegetative' Rezeptionsebene der U-Musik hinausgeht. Oder was schätzen Sie an Mozarts Gassenhauer Eine kleine Nachtmusik? Wir sind der Ansicht, dass im Wesentlichen die feuilletonistische Zugangsmöglichkeit den Künsten einen Platz im populären Kulturverständnis sichert. Daraus zu folgern, dass die Wissenschaften nur etwas künstlerischer zu sein hätten, um akzeptierter Bestandteil der Kultur zu werden, führt in die Irre. Wissenschaft ist keine Kunst. Es gibt für den wissenschaftlichen Laien kein emotionales Pendant zum Genuss von Musik, denn es fehlt in den Wissenschaften das Äquivalent zu den Hörgewohnheiten. Eine gewisse Fertigkeit im Umgang mit der 'Sprache' der Wissenschaften ist - anders als in den Künsten - Voraussetzung für ihren 'Genuss'. Man mag einwenden, dass ein dilettierender Kunstfreund vom Wesen des applaudierten Werkes so gut wie gar nichts verstehe, wenn er es auf dem Niveau der Gewohnheiten, also unserer 'vegetativen' Ebene, rezipiert. Im Mindesten jedoch versteht jener Mensch das Kunstwerk im subjektiven Sinne einer persönlichen Bewegtheit, wodurch das Kunstwerk zu einer gewissen Wirkung gelangt. Sicherlich entspricht in diesem Falle die Bedeutung des Werkes nur selten der vom Künstler intendierten; dennoch besitzt es eine Gültigkeit für den Rezipienten. Auf die Spitze getrieben, könnte man sogar formulieren, dass dem Anspruch des Werkes allein durch die Beschäftigung mit ihm Genüge getan wird. Wenn man über Kunst plaudert, vermittelt man doch Kunst. Plaudert man hingegen über Wissenschaften, so wird keine Wissenschaft mehr vermittelt. Das Pendant zur persönlichen Bewegtheit wäre hier so etwas wie Faszination an der Wissenschaft. Dies kann jedoch nicht einmal als rudimentäres Verständnis durchgehen. Eine Unterscheidung zwischen U-Wissenschaft und E-Wissenschaft ist unmöglich. Die 'rationale' Ebene
Nur durch die Kenntnis der formalen 'Sprache' der Künste wird aus dem Plaudern ein Reden über Kunst. So sind bestimmte Teilaspekte eines Kunstwerks wie etwa die Wirkung des Werkes (Kritik) oder dessen innere Struktur (Analyse) diskutierbar. Durch die Analyse lassen sich in einem Kunstwerk im Allgemeinen formale Regeln entdecken, die der Künstler bei der Schaffung des Werkes verwendet hat. Im Vergleich zu den Künsten sind in den Wissenschaften sowohl die Regeln selbst als auch der Umgang mit ihnen strenger. Grenzüberschreitungen und Regelverletzungen, die in der Kunst zu einem Fortschritt und einer Bereicherung im Ausdruck führen können, sind in dieser Weise in den Wissenschaften nicht möglich. Während wir von einem Künstler geradezu erwarten, noch freier und verschwenderischer mit seiner Sprache umzugehen, würde ein Wissenschaftler mit derartigem Gebaren einiges Stirnrunzeln hervorrufen. Hier zeigt sich Kreativität eher in der Erweiterung der Sprache durch Schaffung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, wie etwa fruchtbarer Begriffsschöpfungen oder Theoriegebäude. Dies geschieht jedoch immer unter der Mindestmaßgabe logischer Folgerichtigkeit. Eine wichtige kulturelle Leistung der Wissenschaften liegt in der Einigung auf eine akzeptierte wissenschaftliche Methode, deren Sprachgebrauch und Regeln die 'zweite Rezeptionsebene' bilden. Zum Verständnis des unterschiedlichen Sprachgebrauchs in Wissenschaften und Künsten ist es notwendig, ihre unterschiedlichen Ziele ins Auge zu fassen; wir wollen dies im Folgenden andeuten. Jedes 'Sprachverhalten' geht von einer Redeabsicht aus, denn alles andere wäre nur Plappern. Die Redeabsicht eines Künstlers liegt nun ganz allgemein im 'Ausdruck seiner Individualität', während die des Wissenschaftlers im 'Plausibilisieren von Ansichten' liegt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Absichten ist jedoch marginal, solange es keine Wissenschaftsgemeinschaft gibt, die sich auf gemeinsame Regeln für das Plausibilisieren geeinigt hat. Diese Regeln möchten wir als die allgemein akzeptierte 'wissenschaftliche Methode' bezeichnen, die unter anderem solche Kriterien wie logische Stringenz oder Reproduzierbarkeit eines Experimentes zum Inhalt hat. Auch die Vermittlung von Kohärenz und das Auseinandersetzen mit den Ergebnissen anderer sind Bestandteil der wissenschaftlichen Methode. Obgleich die Künste keiner allgemein anerkannten 'künstlerischen Methode' folgen, bestehen Konventionen, Traditionen und Regeln, denen sich sowohl die Künstler als auch ihr Publikum unterwerfen. Beispielsweise beabsichtigt die Musiktheorie, abstrakte Eigenheiten der Musik zu formalisieren, wodurch sie auf die weitere Entwicklung der Musik zurückwirkt, indem Hörgewohnheiten geprägt werden. Musikerziehung, Gehörbildung und Kompositionslehre in diesem rückgekoppelten Prozess verstärken das Verständnis von 'erlaubten' und 'verbotenen' Tönen und stabilisieren somit die Gültigkeit der Harmonielehre selbst. Dass dies nicht automatisch zu einer Reglementierung, Standardisierung und letztlich Verarmung der Musik führt, ist jenen Musikern zu verdanken, die das Regelwerk als Richtlinie, nicht als Gesetz betrachten und ihre Freiheit im Regelbruch finden. Eine Bereicherung und Entwicklung gäbe es nicht, wäre die Kompositionslehre fest in den Händen von Musikhandwerkern, Musikanten und Musikideologen. Fortschritt in der Musik heißt: Weiterentwicklung der kompositorischen Regeln, Weiterentwicklung ihrer Sprache. Mit zunehmendem Einblick in die theoretisch beschreibbaren Strukturen der Künste wird der Genusshorizont wesentlich über die emotionalen Stereotypen hinaus erweitert. Unerhörtes kann sich uns in atonalen Werken eröffnen, Unsichtbares in abstrakten Gemälden offenbaren. Diese zweite Rezeptionsebene teilen sich Naturwissenschaften und Künste gleichermaßen, ohne dass eines für das andere gelten muss. Fassen wir also zusammen: Die Existenz einer von uns vereinfachend so genannten 'vegetativen' Rezeptionsebene begründet die herausragende Stellung der Künste im populären Kulturverständnis. Man lässt jedoch der kulturellen Bedeutung der Künste nicht volle Gerechtigkeit widerfahren, wenn man ihre Rezeption auf die emotionale Wirkung beschränkt und ihren intellektuellen Genuss dem Smalltalk des populären Kulturverständnisses opfert. Wir werden zwar auch weiterhin bei Violinentremoli in emotionaler Ergriffenheit schwelgen, der Zugang zur Kunst ist indes vielschichtiger und komplexer. Man sollte also die Künste nicht auf die 'vegetative' Ebene beschränken. Die Wissenschaften hingegen kann man nicht auf die 'vegetative' Ebene abbilden. Weder dem kulturellen Status der Künste noch dem der Wissenschaften wäre Genüge getan. Man muss den emotionalen Zugang zur Wissenschaft auch nicht erzwingen, man muss sie nicht zur Kunst erklären. Wissenschaft ist keine Kunst. Wissenschaft ist Kultur. Wer indes behauptet, Wissenschaft gehöre nicht zur Bildung, offenbart damit nicht nur die engen Grenzen des eigenen Horizontes, die eingestandene intellektuelle Faulheit macht ihn darüber hinaus verdächtig, auch seine Bildung nur über die erwähnte 'vegetative' Ebene zu definieren; und der findet im Worte 'Bildung' allenfalls ein Synonym für 'Amusement'. Die Ignoranz, die wir darin erblicken, scheint uns weitaus fahrlässiger als jene, die in den Worten liegt: Wissenschaft ist keine Kunst. | |