9. Heft - Uwe Pörksen: DIE UMDEUTUNG VON GESCHICHTE IN NATUR

Das metaphorische Kunststück der Übertragung und Rückübertragung


Die Metapher hat üblicherweise in der Poesie ihren festen Platz, in der Wissenschaft dagegen eine zweifelhafte Position. Der Begründer einer methodischen deutschen Wissenschaftssprache, Christian Wolff, formulierte geradezu ein Metaphernverbot. Gegenwärtig wird kaum gezweifelt, dass Metaphern auch in der Wissenschaft unumgängliche Hebel der Erkenntnis sind, Suchgeräte, erste Ordnungshypothesen auf einem unbegangenen Gelände. Mehr noch, es wird vielfach anerkannt, dass sie neben und gegenüber dem Begriff eine eigene Erkenntnisleistung ermöglichen, die aus der unauflösbaren Interferenz zwischen den in der Metapher verschweißten Sphären entspringt. Die Freudenklinge, die Parzival für seine Mutter Herzeloyde bedeutet (Wolfram von Eschenbach), ist viel sagend und begrifflich nicht auflösbar; etwas Analoges gibt es in der Wissenschaft, in der eine definierte Begriffssprache gefordert wird.

In der Wissenschaft sind auf der anderen Seite die Fußangeln metaphorischen Sprechens besonders auffällig. Eine zum Erkenntnismodell erstarrte Metapher wie zum Beispiel der 'Stammbaum der Sprachen' oder der 'Baum des Lebens' kann die Forschung langfristig irreführend lenken und festhalten und das Erkenntnisfeld beschneiden. Und dann kann ein kaum bewusster Gebrauch einer Metapher, das, was man einmal poetische Lizenz genannt hat, zur Brücke werden für die steile Karriere eines Begriffs. So ist es Darwins Begriffen 'Struggle for Life' (Kampf ums Dasein) und 'Natural Selection' (natürliche Zuchtwahl) ergangen, sie wurden zur Basis einer Gesellschaftstheorie, und das Gleiche ist Maturanas Begriff der 'Autopoiesis' zugestoßen. Durch seine Aufnahme in Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme wurde auch er zu einem universellen Schlüssel. Der Vorgang ist, kurz gesagt, der, dass man zunächst die Natur anthropomorph deutet, im Bild menschlicher Tätigkeit, menschlichen Handelns, und dann den im Naturbereich schlüssig gewordenen Begriff in den der menschlichen Gesellschaft, der Anthropologie, zurückholt, wo er dann seine unter Umständen säkulare Wirkung entfaltet.

"Man bedenkt niemals genug, dass eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke", schreibt Goethe in seiner Farbenlehre (§ 751) und, aphoristisch verkürzt, in den Maximen und Reflexionen: "Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist." Er selbst bedachte es und begriff. Bemerkenswerterweise ist gerade er es, der Poet, der im wissenschaftlichen Umgang mit der Metapher, der 'Gleichnisrede', äußerst heikel ist und vor der Vermengung der Stufen, der Sphären der Natur warnt. Seine Kritik an Newtons Optik und an Cuviers Zoologie ist Metaphernkritik.

Das wichtigste Dokument seines zwiespältigen Verhältnisses zur Metapher ist sein Roman Die Wahlverwandtschaften. Dieser ursprünglich als Novelle geplante Roman schlägt den bewussten, kritischen Rückweg ein. Er holt einen in die Chemie ausgewanderten, dort nicht ganz richtig platzierten Begriff in seinen Herkunftsbereich, die menschliche Gesellschaft, zurück und entfaltet ihn hier in seiner Komplexität. Er begrüßt die Sphärenvermengung und warnt im gleichen Augenblick vor ihr. Der Roman enthält in nuce Goethes 'Gesellschaftstheorie', die auf dessen Naturverständnis aufruht und es zugleich - Walter Benjamin missinterpretiert den Roman als naturbefangen - überschreitet.


Goethes Wahlverwandtschaften - das Beispiel einer bewussten Rückübertragung und Begriffsentfaltung

Der Titel von Goethes Roman Wahlverwandtschaften überträgt einen Begriff aus der Chemie in den Bereich menschlicher Beziehungen. Im vierten Kapitel des Romans wird die Übertragung ausdrücklich vorgenommen. Wir erleben eine Abendunterhaltung am Beginn des 19. Jahrhunderts. Baron Eduard liest aus einem Chemiewerk vor, seine Gattin Charlotte wird unaufmerksam und entschuldigt sich: Sie habe etwas von "Verwandten" gehört und sofort an ein paar Vettern gedacht, aber nun höre sie, es sei "von ganz leblosen Dingen" die Rede.

"'Es ist eine Gleichnisrede, die dich verführt und verwirrt hat', sagte Eduard. 'Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.'

'Jawohl!' fuhr der Hauptmann fort, 'so behandelt er alles, was er außer sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie seine Willkür leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den Göttern.'"

Dieser Narzissmus hat sich in dem chemischen Terminus 'Wahlverwandtschaften' objektiviert und wirkt als Verwirrung und Verführung zurück. Was in der Abendunterhaltung folgt, die Erklärung des Terminus, ist ein Verwirrspiel; die Personen springen zwischen den chemischen und den menschlichen Verhältnissen, zwischen den Ebenen hin und her, es gibt Verbindungen und Scheidungen hier wie dort, bis Charlotte warnt:

"'Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten! Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaften etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlaß recht zu bedenken.'"

Das Wort 'Wahlverwandtschaften' war bis zum Erscheinen von Goethes Roman im Herbst 1809 nur als Terminus in der Chemie gebräuchlich. Der Begriff wurde von dem Schweden Torbern Bergman erfunden und 1775 durch sein Werk De attractionibus electivis in die Chemie eingeführt. Er bezeichnete die schon länger bekannte Reaktionsweise chemischer Stoffe, die eine alte Verbindung aufgeben und aufgrund von näherer 'Verwandtschaft' die Verbindung mit einem neuen Stoff eingehen. Es gab Verwandtschaftstafeln, Affinitätstabellen. Man liebte chemische Versuche, wo der einfache oder mehrfache Partnertausch demonstriert wurde.

Goethe hatte schon 1796 in einem naturwissenschaftlichen Aufsatz, der sich unter anderem mit der Idee einer Stufenleiter der Natur beschäftigt, einen Vorbehalt gegen die vermenschlichende Redeweise der Chemiker zum Ausdruck gebracht. Sie hätten den chemischen Stoffen "die Ehre einer Wahl bei solchen Verwandtschaften" zugeschrieben, und doch seien es oft nur "äußere Determinationen", die Trennung und Verbindung zustande bringen. Goethe betont hier die Kluft, durch die die chemischen Stoffe selbst noch von den unvollkommenen Stufen der organischen Natur getrennt sind, und möchte ihnen trotzdem einen "zarten Anteil an dem allgemeinen Lebenshauche" nicht absprechen - das heißt, auch auf der Ebene der Mineralien gibt es etwas den menschlichen Verhältnissen Analoges.

Der Ausdruck 'Wahlverwandtschaften' wird hier also zwiespältig betrachtet: Einerseits sind chemische und menschliche Verhältnisse, auch in der Sprache, auseinander zu halten, andererseits sind diese extrem weit voneinander entfernten Stufen der Natur doch noch als Einheit aufgefasst.

Beide Aspekte kehren in der Selbstanzeige des Romans wieder, die Goethe im Herbst 1809 in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlichte. Er führt hier durch die Erläuterung des Titels in den Problemkern des Romans ein:

"Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen [das heißt hier naturwissenschaftlichen] Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen, und so hat er auch wohl in einem sittlichen Falle eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand und vielleicht auch nicht in diesem Leben völlig auszulöschen sind." 1

Die Anzeige betont die Einheit, die von der anorganischen Natur bis zur Menschenwelt hinaufreicht; die extrem auseinander liegenden Reiche der Notwendigkeit und der Freiheit werden als Einheit von dem Ausdruck 'Wahlverwandtschaften' umklammert. Andererseits gibt sie die Unterscheidung dieser Reiche nicht auf, ihre Polarität wird in den Antithesen "trübe Notwendigkeit" und "heitere Vernunftfreiheit" festgehalten, und gegenüber der Ausdrucksweise der Chemiker, die etwas weit Entferntes durch Vermenschlichung näher heranbringen wollen, meldet sich auch hier ein Vorbehalt. Die chemische Gleichnisrede soll zu "ihrem geistigen Ursprung" zurückgeführt werden. Die Übertragung wird erkennbar als bewusste Rückübertragung.

Goethe hat das Wort sehr geschätzt, er nennt es ein "geistreiches Symbol". Es ist ein Paradox, das ihn so anzieht, ein Widerspruch in sich, der ein romanträchtiges dynamisches Feld eröffnet: 'Wahl' ist frei, 'Verwandtschaft', 'Affinität', wechselseitige 'Anziehung' sind eine Gegebenheit. Wie, wenn die einmal getroffene Wahl von einer neuen Affinität durchkreuzt wird? Der auf unbestimmte Weise komplexe Ausdruck 'Wahlverwandtschaften' erscheint erst auf der Ebene der komplizierten Menschenbeziehungen als das adäquate Bild - auch wenn es schon auf der chemischen Ebene seine Entsprechung hat.

Was ist der Plot? Eine Verbindung wird dadurch getrennt, dass eine dritte, dann eine vierte Person hinzutritt. Der Roman ist die Entfaltung des im vierten Kapitel geschilderten chemischen Versuchs auf der menschlichen Stufe: Im Spannungsfeld zwischen verstörendem Zwang und mühseliger Freiheit wird infrage gestellt und bekräftigt, dass nur eine Natur ist. - Der Verfasser hat das 'geistreiche Symbol' vermutlich deshalb so geschätzt und in die Gemeinsprache zurückgeholt, weil es geeignet ist, am Beispiel einer typischen Konstellation menschlicher Beziehungen die Unterschiedenheit der äußersten Pole der Natur, an denen der Mensch Anteil hat, und ihre Einheit synchron zu erfassen.

Der Ausdruck 'Wahlverwandtschaften' war in Goethes Augen ein komplexes Paradox, geeignet, die Komplexität menschlicher sozialer Verhältnisse an dem Experimentiermodell eines Eheromans zu viert zu entfalten. Die Rückübertragung des auf der chemischen Stufe nicht ganz passenden Ausdrucks in die Gesellschaft ist die Gewinnung eines reichhaltigen Begriffs auf dieser Ebene.


Darwins Schlüsselbegriff 'Natural Selection' als skeptisch verwendete paradoxe Metapher

Auch Darwins Schlüsselbegriffe sind Metaphern und enthalten in sich einen Widerspruch. Es ist aufschlussreich, wie sehr ihm dieser metaphorische Charakter bewusst ist und wie zweifelnd er ihn betrachtet. Besonders die Briefe geben davon Zeugnis. Die beiden Steigeisen der Evolution, 'Struggle for Life' und 'Natural Selection', sind dem Vorstellungsbezirk menschlicher Tätigkeiten entlehnt und dienen dazu, einen Vorgang zu beschreiben und zu erklären. Der Begriff 'Struggle for Life' ist unter dem Eindruck der Bevölkerungslehre von Malthus entstanden und enthält das Bild aktiven Wettbewerbs um die Nahrung, meint aber auch, wie er ausdrücklich und skeptisch bemerkt, etwas so Allgemeines wie die Abhängigkeit einer Pflanzenart von ihren Lebensbedingungen. Der Begriff 'Natural Selection' wird von ihm in Analogie zu dem menschlichen Züchter gebildet - die Natur züchtet, indem sie unbewusst die am besten ausgestatteten und anpassungsfähigsten Arten auswählt und überleben lässt, so wie der Mensch durch bewusste Auslese züchtet.

Der Ausdruck 'Natural Selection' schreibt der Natur, wenn man ihn wörtlich nimmt, Bewusstsein und Wahl zu - in der deutschen Übersetzung 'Natürliche Zuchtwahl' tritt dieser paradoxe Zug noch schärfer hervor. Darwin war sich des Terminus keineswegs sicher. Ein Jahr nach Erscheinen von On the Origin of the Species, am 6. Juni 1860, schreibt er an Lyell: "I suppose 'natural selection' was a bad term; but to change it now, I think, would make confusion worse confounded, nor can I think of a better." Er braucht den Begriff einer urheberlosen Tätigkeit. Auf die öffentliche Kritik an diesem Terminus antwortet er in der dritten Auflage (hier in der Übersetzung Bronns von 1863):

"Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, daß buchstäblich genommen 'Natural Selection' ein falscher Ausdruck ist; wer aber hat je den Chemiker getadelt, wenn er von einer Wahlverwandtschaft unter seinen chemischen Elementen gesprochen? und doch kann man nicht sagen, daß eine Säure sich die Basis auswähle, mit der sie sich vorzugsweise verbinden wolle. Man hat gesagt, ich spreche von 'Natural Selection' wie von einer thätigen Macht oder Gottheit; wer aber erhebt gegen andere einen Einwand, wenn sie von der Anziehung reden, welche die Bewegung der Planeten regelt? Jedermann weiß, was damit gemeint, und ist an solche bildliche Ausdrücke gewöhnt; sie sind ihrer Kürze wegen nothwendig. Ebenso schwer ist es, eine Personifizierung der Natur zu vermeiden; und doch verstehe ich unter Natur blos die vereinte Thätigkeit und Leistung der mancherlei Naturgesetze. Bei ein bis'chen Bekanntschaft mit der Sache sind solche oberflächliche Einwände bald vergessen." 2

Auch für den Sprachwissenschaftler gilt: Bei etwas Bekanntschaft mit der Sache verstehen wir auch ein gewagtes Wort richtig. Es gibt, wie der Sprachtheoretiker Karl Bühler das genannt hat, diese Sachsteuerung des Verstehens. Wir sind zuerst einmal bei den Sachen, wenn wir Worte hören. Das von Darwin ausgebreitete Tatsachenmaterial definiert die von ihm gebrauchten Begriffe durchaus in dem beabsichtigten Sinn.

Aber diese "Kontextdetermination der Begriffe", diese Definition vom Sachzusammenhang her, funktioniert nur halb. Darwin hat in seinen Schlüsselbegriffen Bilder gewählt, die in der Gesellschaft seiner Epoche, ihrem Unternehmertum, ihrem Utilitarismus, ihrer liberalen Konkurrenzideologie einen Ursprung und Rückhalt hatten. Es sind Brückenwörter, die mehrschichtig, teils von der Sache und teils von diesen Ober- oder Untertönen her, aufgefasst werden. Das gilt nicht nur für die Laienwelt, sondern auch für große Teile der Fachbiologie.

Etwas anderes kommt hinzu. Die Sachsteuerung des Verstehens kann immer nur funktionieren, solange und soweit die Sache bekannt ist. Je weniger man orientiert ist, umso mehr gewinnt ein wortgesteuertes Verstehen die Oberhand. Man erschließt die Sache aus dem Wort. Die Wortsteuerung wird begünstigt, wenn selbsterklärende, durchsichtige, orientierende Termini verwendet werden. Dazu gehören auch Metaphern. Sie knüpfen an bekannte Vorstellungen an und enthalten damit einen Hinweis auf die gemeinten begrifflichen Inhalte, man versteht sie halbwegs und wird sehr leicht zu der vorschnellen Meinung verführt, sie ganz zu verstehen, die Sache in dem Wort zu haben. So können griffige Termini einer wissenschaftlichen Leitdisziplin zu Generalschlüsseln einer Epoche werden.

Die Sprache Darwins hatte daran Anteil, dass seine biologische Theorie schlagartig in die soziale Welt zurückwanderte, der sie entlehnt war. Der Vorgang stellt sich mir so dar:

Die Übertragung der Begriffe aus der Biologie in den Sozialbereich war eine - nur halb bewusste - Rückübertragung. Begriffe aus dem menschlichen Alltagsbereich wurden zuerst in den biologischen transferiert, sie füllten sich hier mit einem genauen, vielfach belegten Inhalt, wurden zum formelhaften Ausdruck eines allgemeinen kausalmechanischen Gesetzes: Die Vorstellung 'Fortschritt durch Kampf ums Dasein' und 'Zuchtwahl' konnte nun zurückübertragen werden in den menschlichen Bereich, von dem her ihr immer eine gewisse bildliche Unschärfe und Gefühlsbesetzung angehaftet hatte, und konnte sich hier im Sinn einer biologischen Terminologisierung und Sanktionierung der alltagssprachlichen Vorstellungen auswirken. Die vorherige Projektion begünstigte eine Rückprojektion. Die Übereinstimmung in der Sprache der beiden Bereiche legte eine Kongruenz in der Sache nahe. Die anthropomorphe bzw. soziomorphe Zoologie schlug um in eine zoomorphe Anthropologie und Sozialtheorie; es trat jene Verführung durch die Sprache und Verwirrung der Sphären ein, von der in den Wahlverwandtschaften die Rede ist. 3


Autopoiesis als Generalschlüssel? Luhmanns Selbstreproduktion sozialer Systeme

Zu den Naivitäten heutiger Theoriebildung gehört die Vorstellung, dass der Begriff 'System' keine Metapher sei. 'System' ist geradezu eine Leitmetapher der Gegenwart. Der Begriff hat den Vorzug hochgradig abstrakter Allgemeinheit. Er ist eine sehr blasse Metapher. Das befähigt ihn, weit auseinander liegende Stufen der Natur zu umklammern. Eine Art von 'System' kann auf jeder Stufe des Lebendigen vermutet werden. Die Metaphorik wird erkennbarer, wenn das Wort zum Subjekt, zum Handlungsträger wird und ein Tätigkeitswort regiert: 'fitnessoptimierende Systeme', 'selbstreproduzierende Systeme'. Die Vorstellung, die dieser Bildersprache zugrunde liegt, ist von Maturana angeregt. Maturana hat für Vorgänge auf der Molekularebene, zum Beispiel für die erste Bildung einer Zelle, den Begriff 'Autopoiesis' vorgeschlagen. Das Wort bedeutet 'Selbsterschaffung', 'Selbstorganisation'. Es ist eine einprägsame Metapher, dem menschlichen Machen, dem 'poiein', entlehnt. In 'Autopoiesis' ist wie in 'Natural Selection' eine Handlung umgedeutet in einen Vorgang.

Wie groß ist die Reichweite dieses naturwissenschaftlich-technischen Molekularmodells? Ist es geeignet, die menschliche Geschichte, unsere Wirtschaftsweise, unsere gesellschaftlichen Lebensformen zu beschreiben, zu erklären?

Niklas Luhmann hat den Begriff 'Autopoiesis' um einige Stufen erweitert: soziale Systeme, Kommunikationsvorgänge, der Mensch als physisches Wesen und als Intelligenz, alles läuft "gleichsam von selber". In seinem Hauptwerk Soziale Systeme liest man:

"So wie die Selbstreproduktion sozialer Systeme dadurch, daß Kommunikation Kommunikation auslöst, gleichsam von selber läuft, wenn sie nicht schlicht aufhört, gibt es auch am Menschen geschlossen-selbstreferentielle Reproduktionen, die sich bei einer sehr groben, hier aber ausreichenden Betrachtung als organische und als psychische Reproduktion unterscheiden lassen. Im einen Falle ist das Medium und die Erscheinungsform* das Leben, im anderen Falle das Bewußtsein. Autopoiesis qua Leben und qua Bewußtsein ist Voraussetzung der Bildung sozialer Systeme, und das heißt auch, daß soziale Systeme eine eigene Reproduktion nur verwirklichen können, wenn die Fortsetzung des Lebens und des Bewußtseins gewährleistet ist. Diese Aussage klingt trivial. Sie wird niemanden überraschen.

* Ich nenne 'Erscheinungsform' zusätzlich, um auf die aus der Autopoiesis sich ergebende Möglichkeit der Beobachtung hinzuweisen." 4

Der Begriff wird hier dreifach verwendet: einmal für das Leben als physische Existenz, einmal für das Leben als Bewusstsein und drittens für die sich überliefernde, fortsetzende Gesellschaft, die dadurch beschrieben wird, "daß Kommunikation Kommunikation auslöst".

Das Abstraktionsniveau, auf dem Luhmann sich bewegt, lässt nicht erkennen, worin die beschreibende oder erklärende Leistung des naturwissenschaftlichen Terminus 'Autopoiesis' besteht. Der Text bleibt auf der Ebene der Behauptung und Suggestion stehen; er schreibt die unbestreitbare Tatsache, dass Gesellschaften sich entweder überliefern oder aufhören und dass, wo es keine Leute gibt, weder als organische Erscheinungsformen noch als Intelligenzen, es auch keine Gesellschaft gibt - er schreibt diese Tatsache um in einen scheinbar naturwissenschaftlich durchschauten Sachverhalt. Das ist einigermaßen komisch.

Maturana hat sich kürzlich zu dem expansiven Gebrauch geäußert, den sein Begriff 'Autopoiesis' in den achtziger Jahren erfahren hat. In einem Gespräch, das Bernhard Pörksen mit ihm geführt hat, stellt er Maturana die Frage, warum dieser im Gebrauch des von ihm kreierten Begriffs so abstinent sei. Maturanas Antwort: "Der Grund besteht schlicht darin, dass ich den Begriff nur dann gebrauche, wenn er nötig und angebracht ist." Er erläutert darauf präzis, warum und in welchem Sinn er auf der Ebene der Molekulargenetik, der Zellbildung zum Beispiel von 'Autopoiesis' spricht, und meint dann: Das einzig tragfähige Verfahren sei, zunächst einmal das Phänomen Gesellschaft zu untersuchen und zu beschreiben, um dann zu sehen, was der aus der Molekulargenetik entlehnte Begriff zur Klärung leiste. Andernfalls werde der Gegenstand durch die entlehnte Metapher reduzierend hergestellt. Das ist in meinen Augen ein weiterführender, klärender Ansatz.

'Autopoiesis' und 'Selbstorganisation' sind seit Jahrzehnten hochgradig politische, metaphorische Begriffe. Sie dienen als Trostpflaster und Entlastungslehre - die Selbstentwicklung, die Selbstorganisation sozialer Systeme wird alles richten, es läuft "gleichsam" alles von selber; auch das ist eine Form der Handlungsanweisung - so wie Darwins Schlüsselbegriffe auf andere Weise zu Handlungsanweisungen geworden sind.

Vor dem genaueren Blick des Phänomenologen - jetzt meine ich Goethe, Darwin, im Gegensatz zu manchen Nachfolgern, und Maturana -, vor ihrer Sprachskepsis halten diese metaphorischen Brücken kaum stand. Die Umdeutung von Geschichte in Natur, in ein Objekt der jeweils herrschenden Naturwissenschaft, das Verfahren, die Natur zunächst gesellschaftsförmig zu deuten und dann die Gesellschaft naturwissenschaftsförmig, scheint zweifelhaft, nein, irreführend zu sein.

"Die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlich-ökonomischen von der Konkurrenz nebst der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht [...] so rücküberträgt man dieselben Theorien aus der organischen Natur wieder in die Geschichte und behauptet nun, man habe ihre Gültigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft nachgewiesen. Die Kindlichkeit dieser Prozedur springt in die Augen, man braucht kein Wort darüber zu verlieren. Wollte ich aber näher darauf eingehen, so würde ich es in der Weise tun, daß ich sie in erster Linie als schlechte Ökonomen und erst in zweiter Linie als schlechte Naturforscher und Philosophen darstellte." 5

 

1 Goethes Selbstanzeige des Romans 'Die Wahlverwandtschaften', in: E. Trunz (Hrsg.): Goethes Werke (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden). Hamburg 1948 ff., Band 6, S. 621.

2 Ch. Darwin: Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe ums Dasein. Nach der 3. engl. Auflage [...] übersetzt von H. G. Bronn. Stuttgart 1863, S. 94. Ch. Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein. Nach der 4. engl. Ausg. von J. V. Carus. Stuttgart 1867.

3 Vgl. U. Pörksen: Die Metaphorik Darwins und Freuds - Überlegungen zu ihrer Wirkung, in: Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien. Tübingen 1986, S. 138. Vgl. ebd.: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman 'Die Wahlverwandtschaften', S. 97-125.

4 N. Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, S. 296 f.

5 Brief von Friedrich Engels an P. L. Lawrow, London, 12. bis 17. November 1875