adler Handschriften zu und nach der Vorlesung über Physische Geographie:
Beschreibung ›Ms Messina‹
Fundort: Messina (Italien)
Knopf

0. Zur Forschungslage

Die erste, unmittelbar dem Manuskript zugewandte Arbeit stammt von Nicola de Domenico; La storia naturale della terra secondo Kant. Il Ms. FN 6 della Biblioteca Regionale di Messina (Kants Physische Geographie. 1782) con un estratto dal testo, in: Università di Messina, La Tradizione Kantiana in Italia (Messina 1986), S. 389-474. In der Folge von Adickes' Untersuchungen von 1911, die die Handschrift nur indirekt hatten zur Kenntnis nehmen können (S. 124 Anm. 1), wird das Verwandtschaftsverhältnis des Textes unter Einbeziehung einer weiteren in Berlin verfügbaren Handschrift (Ms Busolt) genauer bestimmt. Adickes' Vermutung ist im Kern zutreffend: Das anonyme Ms steht in Verbindung mit der von Adickes so genannten M-Gruppe; gemäß jetziger Typologie zum Typ B1. Es gehört also zu den Zeugnissen, die einem Plan aus der Mitte der 1770er Jahre folgen.

Die Umstände der Übereigung des Manuskripts an die Bibliothek in Messina sind geklärt durch De Domenico 1986, S. 405: Schenkung des preußischen Diplomaten Felix Bamberg (1820-1893). - Bamberg erscheint auch unter den zwischenzeitlichen Eigentümern einer in ihrer Art wohl einzigartigen Kant-Reliquie, die 2004 in der Kant-Ausstellung des ›Museum Stadt Königsberg‹ in Duisburg gezeigt wurde: Haare vom Kopf des verstorbenen Immanuel Kant. Der zugehörige Katalog reproduziert S. 191 nicht nur die vordere Schauseite des Stücks, sondern auch seine Rückseite mit Eintragungen zur Provenienz; darunter die folgenden:
     »Kants / Haare. / Aus dem Nachlasse des / Professor Schubert in Königs- / berg. / Dr. Felix Bamberg / Consul des deutschen Reiches / in Messina
Nur die beiden ersten Worte sind wohl von Ehregott Andreas Christoph Wasianski (1775-1831) geschrieben, der am Schluß seiner Kant-Biographie des Jahres 1804 Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren auch die Anfertigung einer Totenmaske und das Scheren des Kopfes des Verstorbenen erwähnt. - Der Königsberger Historiker und Kant-Biograph Friedrich Wilhelm Schubert (1799-1868) ist bekanntlich eine der wichtigsten Adressen bei Fragen zur Überlieferung des handschriftlichen Nachlasses von Immanuel Kant. In seiner 1839 erschienenen Ausgabe der ursprünglich von Friedrich Theodor Rink edierten Physischen Geographie informiert Schubert gleich zu Beginn mit einer Note (Immanuel Kant's Werke, Bd. 6, S. 418; ähnlich S. x-xi der ›Vorrede‹) darüber, daß er die Rink'sche Ausgabe mit »sechs verschiedenen« ihm in Königsberg zugänglichen »Nachschriften dieser Vorlesungen Kant's aus den Jahren 1774-93« verglichen habe. Auch wenn Schubert keine hinreichend detaillierten Angaben zu diesen von ihm eingesehenen studentischen Nachschriften mitteilt, so darf doch wenigstens vermutet werden, daß das heute in Messina befindliche Manuskript darunter gewesen ist; denn Bamberg muß mit dem Nachlaß von Schubert (wohl indirekt) in Kontakt gewesen sein.


1. Die äußere Beschaffenheit

Quart-Band in Halbleder gebunden; auf dem Rücken ein Signaturschild der Besitzerin (Messina, Biblioteca Regionale, già Universitaria): Ms FN 6.

Die erste Textseite wird in einer zeitgenössischen Zählung als 1 und die letzte mit 371 beziffert; übersprungen sind die beiden vorausgehenden Blätter: Vorsatz und Titel. Eine spätere, bibliothekarische Blattzählung beginnt hingegen bereits auf dem Vorsatzblatt, das die folgende Widmung zeigt: »Geschenk an die Bibliothek / von Messina / Dr Felix Bamberg / Konsul des deutschen Reichs / in Messina / Messina den 10ten April 1876.« Darunter ein Besitzstempel der genannten Bibliothek. Das erste Titelblatt zeigt als Text: »Kants / physische Geographie. / 1782.« In der zeitgenössischen Paginierung ist beim Übergang vom ersten zum zweiten Teil der Vorlesung die Vorder- und Rückseite des beide Teile trennenden, zweiten ›Titel-Blattes‹ (f. 92) übersprungen worden.- Die Blattzählung endet mit 189 auf p. 371. Regelmäßig begleiten Kustoden den Seitenübergang; eine Lagen- oder Bogenzählung findet sich nicht. Als Mühlenzeichen ist ein Holländisches Fabrikat festgestellt: »C & I Honig« (De Domenico 1986, S. 405). Der Text ist durchgängig von einer gut lesbaren Hand geschrieben.

Kurze Marginalien zeigen die pp. 30, 45, 53 [Figur_1, ab Z. 13], 54 [Figur_2, ab Z. 21], 300. - Beide Figuren dienen zur Illustration von Ebbe und Flut: Die Positionen von Luna und Sol beeinflußen den um die Erde zirkulierenden Flutberg des Ozeans. Der Text zwischen p. 53,13 und p. 55,02 bezieht sich erläuternd auf beide Skizzen. - Ganz ähnlich im Ms Fehlhauer p. 49-50.

Um die Paginierung der Transkription möglichst eng an derjenigen des Ms zu halten, ist die Vorderseite des trennenden Blattes als 178a und seine Rückseite als 178b gezählt worden. - Der gegenwärtigen Beschreibung liegt eine Digital-Kopie des Originals zugrunde, die im Dezember 2014 freundlicherweise von der Besitzerin übermittelt worden ist. Für freundliche Unterstützung sei Hansmichael Hohenegger (Rom) gedankt.


2. Die innere Struktur: Typ B1

Das Ms gliedert sich selbst in zwei Teile (sectio I, p. 17-185 / sectio II, p.  186-369); vorgeschaltet sind explizit so genannte ›Prolegomena‹ und eine ›mathematische Geographie‹ (p. 1-16). Inhaltlich gilt jedoch die übliche Dreigliedrigkeit: Die Sectio II zerfällt in fünf ›articulos‹; der letzte ist überschrieben mit (p. 324): ›Von dem National-Charackter, Sitten und Gebräuchen verschiedener Völcker‹; behandelt wird der dritte Teil des ursprünglichen Konzeptes von 1757/59 (Ms Holstein); Europa bleibt unberücksichtigt. Nur die erste Sectio ist eigenständig abgefaßt; die zweite übernimmt den Text des B0-Typs (Ms Kaehler) aus dem Sommers 1775. Den Schluß bildet p. 370-371 ein Inhaltsverzeichnis beider Sectionen.


3. Einzelheiten

  1. Tabelle der Quer-Verweise
    Teil 1, p. 017ff.
    [Physische Geographie]
    Teil 2, p. 186ff.
    [Naturgeschichte]
    Teil 3, p. 324-369
    [Geographie]
    p.  20 ⇒ p. 55-58
    p.  72 ⇒ p. 24 und p. 38f.
    p. 117 ⇒ p. 105f.
    p. 160 ⇒ p. 96 und p. 158
    Wie Ms Kaehler
    --
    Wie Ms Kaehler
    --

  2. Externhinweise

    Nicht festgestellt.


  3. Lücken

    p. 156.


  4. Doubletten und Dittographien

    pp. 160/164, 173/174 [bemerkt], 286 [bemerkt], 316 [bemerkt].


  5. Einzelbeobachtungen

    Sondergut (nicht zum B-Typ) findet sich an vier Stellen; pp. 138, 191, 252, 295.

    Im Abgleich mit Ms Kaehler:

    1. Von kurzen Einschüben abgesehen bietet die ›Einleitung‹ (p. 1-7) nur Text, der schon mit dem Ms Kaehler (p. 3-15) gegeben ist.
    2. Messina p. 348 ist gegenüber Kaehler p. 502 (Werner p. 577) ein kurzes Textstück so ausgefallen, daß der nun vorhandene Text stillschweigend von den Inseln der ›Molucken‹ in eine Erörterung über Hindernisse menschlicher Kommunikation springt. Es fehlt dort eine Überschrift ›Afrika‹ oder wenigstens ein trennender Zeilendurchschuß und der einleitende Halbsatz: »Die natürliche Grentze von Africa, welches [...].« - Adickes hat dasselbe Manko beschrieben für das Ms Wolter (1911, S. 127). Im Ms Fehlhauer erscheint dieser Übergang von Inseln des Pazifik zum afrikanischen Kontinent p. 278 mitten in einem Absatz und in runde Klammern gesetzt; auch Busolt ist p. 328 nicht von diesem Ausfall-Phänomen betroffen.
    3. In der ›Einleitung‹ wird einmalig (p. 7; ebenso: Fehlhauer, p. 6 / Busolt, p. 10) der Ausdruck »in summa« benutzt, der von Reinhold Bernhard Jachmann als ein Charakteristicum des Kantischen Lehrvortrags erwähnt wird (1980 [1804], S. 133, im 4. Brief): »Bei diesen metaphysischen Spekulationen ereignete es sich aber öfters, daß Kant von seiner Geisteskraft hingerissen, einzelne Begriffe zu weit verfolgte und in dieser Digression den Gegenstand aus dem Auge verlor, wo er denn gewöhnlich mit dem Ausdrucke in summa meine Herren! plötzlich abbrach und auf das Hauptmoment wieder eiligst zurückkehrte.«
    4. Auch rhetorisch aufgeworfene »quaestiones« oder »Fragen« hat der Messina-Text recht häufig bewahrt (pp. 8, 28, 33, 47, 48, 58, 59, 60, 87, 91, 92, 130, 205, 269, 293, 301).

4. Summarische Charakteristik

Erich Adickes lag das Ms nicht vor; er (Adickes 1911, S. 124 Anm.) nimmt das Ms aufgrund einer kurzen Beschreibung zu seiner Gruppe MNOZ (d. i. Typ B1 / Zur Typologie). - Die sorgfätig angelegte, nicht personalisierte Handschrift ist augenscheinlich das Produkt eines professionellen Kopisten. Es zeigt als einziges der vier heute verfügbaren Manuskripte dieses Typs einen einheitlichen - nicht umgeformten - Charakter und wird primär aus diesem Grund als Leit-Text zur Edition des in dieser Gruppe überlieferten Teils der Vorlesung des Sommers 1776 (?) zugrunde gelegt.

Die von Adickes mit den Buchstaben M, O und Z bezeichneten Manuskripte sind erhalten und sämtlich personalisiert: Fehlhauer, Busolt und Wolter. Von diesen ist der aus Danzig stammende Nathanael Christian Fehlhauer als erster in die Matrikel der Albertina eingeschrieben worden: 9. Mai 1780. Die Eintragungen auf dem Titelblatt des Ms bezeugen, daß Fehlhauer den Band Anfang Mai 1782 erworben und nicht selbst geschrieben hat. Die wesentlichen Charakteristika dieses Ms hat Erich Adickes bereits 1911 zusammengefaßt; wegen der damit gegebenen Komplikationen ist das Ms Fehlhauer nicht als Leit-Text, sondern als erste Korrekturinstanz für das Ms Messina herangezogen worden. Die beiden weiteren Handschriften dieses Typs (Busolt, Matrikel: 1788/09/23 / Wolter, Matrikel: 1795/09/29) sind deutlich später entstanden. Wegen der ihnen je eigenen, spezifisch den Text umformenden Merkmale (zu: Busolt) eignet sich keine von beiden zum Leit-Text.


Datum: April 2016 / März bis Juni 2017 / ... / 27.06.2018 / 05.10.2018